Die Schuldenkrise erfordert Maßnahmen, die man vor kurzem noch als völlig illussorisch eingestuft hätte. Um den Euro zu retten, werden massive Eingriffe in die nationale Souveränität diskutiert. Doch Deutschland hat kaum noch Spielraum für mutige Integrationsschritte, sagt das BVerfG - außer es ersetzt das Grundgesetz durch eine neue Verfassung. Von Christian Rath.
Die CDU hat offensichtlich Angst vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Die Richter könnten erklären, dass neue große Integrationsschritte mit dem Grundgesetz nicht machbar sind und zumindest eine Volksabstimmung erfordern, die man in der CDU aber unbedingt verhindern will. Im CDU-Leitantrag "Starkes Europa", den der Parteivorstand am Montag beschlossen hat, werden deshalb keine "Vereinigten Staaten von Europa" gefordert, nicht einmal eine europäische Wirtschaftsregierung - obwohl immer deutlicher wird, dass eine Währungsunion dieser Größe und Heterogenität auf Dauer mehr politische Integration - vor allem in der Haushaltspolitik - erfordert. Der CDU-Antrag ist alles andere als visionär, eher zögerlich.
Doch auch mancher der im Antrag enthaltenen kleinen Schritte, könnte bei den Verfassungsrichtern ein Stirnrunzeln verursachen. So ist etwa ein "EU-Sparkommissar", der in die Haushalte überschuldeter Staaten eingreifen kann, durchaus ein massiver Einschnitt in die nationale Souveränität - der bald auch Deutschland treffen könnte.
Das Staatsziel "Vereintes Europa"
Eigentlich ist das Grundgesetz sehr europafreundlich. In der Präambel heißt es, das deutsche Volk sei "von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Anfang der 90er-Jahre wurde dies im neuen Artikel 23 bekräftigt: "Zur Verwirklichung eines Vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit", heißt es dort. Damit ist die Schaffung eines "vereinten Europas" als Staatsziel benannt.
Zwar formuliert das Grundgesetz auch Anforderungen an die EU: Sie müsse unter anderem demokratisch, rechtsstaatlich, sozial sein und die Grundrechte wahren. Doch das sind Selbstverständlichkeiten, die allenfalls im Detail für Streit sorgen können.
Die eigentliche Hürde steht nicht im Grundgesetz, sondern wurde vom BVerfG erfunden. Das Grundgesetz schütze "die souveräne Staatlichkeit Deutschlands" und verbiete deshalb den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat, hieß es im Lissabon-Urteil 2009 (Urt. v. 30.06.2009, Az. 2 BvE 2/08, 5/08, 2 BvR 1010/08, 1022/08, 1259/08 und 182/09). Selbst eine Verfassungsänderung könne den Beitritt zu einem Staat namens Europa nicht ermöglichen, denn die deutsche Souveränität werde sogar in der Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3) garantiert, so die Interpretation der Karlsruher Richter.
Integrationsbremse Karlsruhe?
Selbst im Vorfeld einer europäischen Staatsgründung errichtete das
BVerfG im Lissabon-Urteil zahlreiche Stoppschilder. Wenn der Bundestag nicht mehr "ausreichend Raum zur politischen Gestaltung hat", sei dies vom Grundgesetz nicht mehr gedeckt. Im Kern müssten folgende Angelegenheiten national bleiben: Strafrecht, Polizei, Militär, Haushalt, Steuern, Sozialpolitik, Bildung, Medien, Kultur und Religionsfragen. Wenn die EU in diese zentralen Bereiche der deutschen Staatlichkeit eingreift, müsse die Bundesrepublik gegensteuern "und im äußersten Fall sogar ihre weitere Beteiligung an der Europäischen Union verweigern".
Die Verfassungsrichter bekamen für dieses selbstherrliche Urteil
anschließend viel Prügel - von der deutschen Politik, aber auch in ganz
Europa. Deutschland war immer Motor der Integration in Europa, von
Adenauer bis Kohl, und nun sollte jeder weitere größere Schritt
plötzlich verfassungswidrig sein?
Doch Karlsruhe hielt an seiner restriktiven Linie fest und bekräftigte diese jüngst im Urteil über den Euro-Rettungsschirm. Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben des Staates müsse auch weiterhin in der Hand
des Bundestags liegen. Entscheidungen der Regierung über Garantien für
andere Staaten müssen vom Bundestag vorab bestätigt werden. Darauf könne
auch per Verfassungsänderung nicht verzichtet werden. Wieder berief sich
das BVerfG also auf die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes, diesmal in
Verbindung mit dem Demokratieprinzip. Ein EU-Sparkommissar mit Durchgriffsrecht wäre da wohl kaum zu machen. Und was Deutschland für
sich nicht akzeptiert, kann auch kaum von den Griechen verlangt werden.
Ausweg Art. 146 Grundgesetz
Was also tun? Karlsruhe gab hierauf eine spektakuläre Antwort: Der
Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat sei "allein dem unmittelbar
erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten", steht im
Lissabon-Urteil. Das ist ein Verweis auf Art. 146 des Grundgesetzes.
Dort heißt es, das Grundgesetz "verliert seine Gültigkeit an dem Tage,
an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in
freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Für weitere Integrationsschritte müsste also das Grundgesetz aufgegeben
und eine neue deutsche Verfassung geschrieben werden. Wie diese
zustandekommt, lässt das Grundgesetz offen. Denkbar ist ein Volksentscheid, aber auch der Beschluss durch eine große verfassungsgebende Versammlung wäre möglich. Über das Grundgesetz gab es auch nie eine Volksabstimmung.
Andreas Voßkuhle, der Präsident des BVerfG, hat sich jüngst in einem Interview mit der FAS bereits für einen Volksentscheid ausgesprochen. Bei der "Abgabe weiterer Kernkompetenzen" an die EU "müsste Deutschland sich eine neue Verfassung geben. Dafür wäre ein Volksentscheid nötig. Ohne das Volk geht es nicht!"
Sein Richterkollege Peter Huber erläuterte in einem SZ-Interview, dass die neue (nun wirklich europa-offene) deutsche Verfassung gar nicht völlig neu geschrieben werden müsse. Man könne auch das Grundgesetz nehmen und darin "wenige Sätze" ändern. Hauptsache, über die Ablösung des Grundgesetzes finde eine Volksabstimmung statt.
Genau eine solche Volksabstimmung über die deutsche Zukunft in der EU
will die CDU aber unbedingt verhindern. Sie fürchtet nicht nur eine
Zerreißprobe mit der Schwester-Partei CSU und Europa-Skeptikern in den
eigenen Reihen, sondern auch eine handfeste Niederlage an der Urne.
Deshalb wohl auch die wenig ambitionierte CDU-Weichenstellung im
Leitantrag für den Parteitag im Dezember - bloß keine schlafenden Hunde
wecken, heißt die Devise. Sobald sich aber entsprechende Pläne auf
EU-Ebene konkretisieren, wird in Deutschland eine vermutlich hitzige
politische und verfassungsrechtliche Diskussion losbrechen.
Dr. Christian Rath arbeitet als rechtspolitischer Korrespondent für die tageszeitung (taz) und einige große Regionalzeitungen.
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Christian Rath, Mehr EU-Integration: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4662 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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