Das LG Dortmund hält die Ansprüche von Angehörigen und Hinterbliebenen nach dem Brand in einer Textilfabrik in Pakistan für verjährt. Zwingend ist diese Annahme nicht, meint Michaela Streibelt. Das LG habe eine historische Chance vertan.
Die Frage der Verantwortung von KiK für das größte Industrieunglück in der Geschichte Pakistans bleibt weiterhin ungeklärt. Es gibt weiterhin kein deutsches Präzedenzurteil zu Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette und zur Haftung deutscher Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland. "Die Kammer musste offen lassen, ob die geltend gemachten Ansprüche nach dem insoweit einschlägigen pakistanischem Recht überhaupt bestehen, denn derartige Ansprüche seien jedenfalls nach pakistanischem Recht verjährt", teilte das Landgericht (LG) Dortmund am Donnerstag mit. Es hat die Klage von vier pakistanischen Staatsangehörigen gegen KiK abgewiesen (Urt. V. 10.01.2019, Az. 7 O 95/15).
Bei dem seit März 2015 anhängigen Verfahren handelt es sich um den ersten Fall, in dem Menschenrechtsverletzungen durch deutsche Unternehmen im Ausland vor einem deutschen Gericht verhandelt werden. Dass deutsche Gerichte über einen Sachverhalt zu entscheiden haben, der vollständig in einem anderen Staat stattgefunden hat, ist jedoch keine Seltenheit. Zuständig ist in solchen Fällen das Gericht am Wohnsitz des Beklagten bzw. am Geschäftssitz des beklagten Unternehmens. Da KiK seinen Sitz im nordrheinwestfälischen Bönen hat, hier also das LG Dortmund.
Das gab bereits in der mündlichen Verhandlung am 29. November 2018 zu verstehen, dass es geneigt ist, die Klage wegen Verjährung abzuweisen. An diesem Verhandlungstag, der nun der einzige bleiben wird, ging es ausschließlich um Verjährungsfragen. KiK hatte zunächst einen Verjährungsverzicht erklärt. Dann machte das Unternehmen das Gericht auf die nach pakistanischem Recht zwingende Verjährung aufmerksam. Und bedauerte schließlich, dass so nicht materiell-rechtlich darüber entschieden werden könne, ob KiK seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist.
Kläger: Kik flüchtet vor der Verantwortung als faktischer Boss
Am 11. September 2012 war es zu dem schweren Brand in der Textilfabrik Ali Enterprises im pakistanischen Karachi gekommen. Von den insgesamt 885* Arbeiterinnen und Arbeitern im betroffenen Gebäude verbrannten mehr als 250, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit. Viele weitere wurden schwer verletzt.
Brände in der Textilproduktion sind keine Seltenheit; eine so hohe Opferzahl dagegen schon. Da Fluchtwege verstellt und abgeschlossen sowie Fenster vergittert waren, konnten die Arbeiter nicht entkommen. KiK war nach eigenen Angaben Hauptkunde der Firma Ali Enterprises.
Aus Sicht der Kläger, dreier Angehöriger und eines Hinterbliebenen von Opfern, ist das Unternehmen mitverantwortlich für die Produktionsbedingungen: "Als Hauptkunde der Fabrik war KiK nicht bloßer Abnehmer, sondern der Boss und damit mitverantwortlich für den mangelnden Brandschutz", so Rechtsanwalt Remo Klinger, der Kläger vor Gericht vertritt. "KiK hat sich in die Verjährung geflüchtet und damit verhindert, dass das Gericht die Sachfragen sowie wichtige Fragen der Haftungspflicht deutscher Unternehmen klärt."
Warum pakistanisches Recht anwendbar ist
Auch wenn mit dem LG Dortmund ein deutsches Gericht zuständig ist, ist dadurch nicht zwangsläufig deutsches Recht anwendbar. Bei dem Unglück handelt es sich um eine sogenannte "unerlaubte Handlung, auf die das Recht des Ortes anwendbar ist, an dem sie begangen wurde. Damit hatte das LG Dortmund nach pakistanischem Recht zu entscheiden.
Das schließt grundsätzlich auch Verjährungsfragen ein. Hiervon sind allerdings Ausnahmen möglich. So können die Parteien eines Rechtsstreits das auf die Ansprüche oder auch nur auf einzelne Fragen anwendbare Recht wählen. Eine solche Rechtswahl muss nicht ausdrücklich erfolgen, sondern kann sich auch aus den Umständen ergeben.
Nach dem Brand organisierten sich Überlebende und Hinterbliebene in der Baldia Factory Fire Affectees Association. Síe verhandelten mit KiK über Schmerzensgeld und Schadensersatz. Neben der Kompensation des dauerhaften Verdienstausfalls der Haupternährer vieler Familien ging es ihnen auch um Verbesserungen beim Brandschutz und bei den Arbeitsrechten.
Der Textildiscounter zahlte unmittelbar nach dem Brand Soforthilfe in Höhe von insgesamt einer Millionen US-Dollar, eigenen Angaben zufolge aus "moralischer Verantwortung". Im Dezember 2014 legte das Unternehmen im Rahmen der Verhandlungen ein Angebot vor, das Schmerzensgeld weiterhin ausdrücklich ausschloss und erklärte zugleich, auf die Erhebung der Einrede der Verjährung bis Ende des Jahres 2016 zu verzichten.
Im März 2015 machten vier Mitglieder der Baldia Factory Fire Affectees Association die Klage beim LG Dortmund anhängig. Nachdem das Gericht sich im Sommer 2016 für zuständig erklärte und Prozesskostenhilfe bewilligte, bewegte sich KiK in den zur selben Zeit laufenden Verhandlungen bei der International Labour Organisation und verpflichtete sich zur Zahlung von insgesamt 5,15 Millionen Euro Schadensersatz. Die Zahlung von Schmerzensgeld schloss das Unternehmen auch hier ausdrücklich aus.
LG Dortmund: Verjährungsfrist abgelaufen und von Amts wegen zu berücksichtigen
KiK sieht sich an den im Dezember 2014 erklärten Verjährungsverzicht nicht mehr gebunden. Nach dem auf die Frage der Verjährung anwendbaren pakistanischen Recht bzw. nach dem Common Law verjähren Ansprüche wegen Körper- und Personenschäden innerhalb eines Jahres. Zum Zeitpunkt der Erklärung, auf die Erhebung der Einrede der Verjähung zu verzichten, wären etwaige Ansprüche also bereits verjährt gewesen.
Im Common Law ist die Verjährung auch nicht als Einrede, sondern vom Gericht von Amts wegen zu berücksichtigen. Ein Verjährungsverzicht ist nach pakistanischem Recht nicht möglich. KiK beruft sich darauf, dass sich Verhandlungen nach pakistanischem Recht nicht auf die Verjährung auswirkten, weder werde sie so unterbrochen noch gehemmt. Einzige Ausnahmen hiervon seien die Anerkennung der Haftung oder die arglistige Hinderung an der Geltendmachung von Ansprüchen, beides sei hier nicht geschehen.
Das LG Dortmund ist dieser Ansicht unter Berufung auf ein Gutachten eines Sachverständigen von der Universität Bristol gefolgt. Die maximal zweijährige Verjährungsfrist für sämtliche in Betracht kommenden Ansprüche sei von Amts wegen zu berücksichtigen, auf ihren Eintritt zu verzichten oder sie zu verlängern oder zu hemmen, sei nicht möglich. Der Ausnahmefall einer Verlängerung der Verjährungsfrist nach pakistanischem Recht liege nicht vor. Und die Parteien hätten auch nicht per Teilrechtswahl (Art. 14 Abs. 1a Rom-II-Verordnung) vereinbart, dass sich (nur) die Verjährung der Ansprüche nach deutschem Recht richten solle, so die Richter im Ruhrgebiet.
Teilrechtswahl durch Verjährungsverzichtserklärung
Dabei spricht vieles gegen die Annahme der Verjährung. Zum einen erklärte die anwaltlich vertretene KiK im Rahmen der Verhandlungen über eine Entschädigung im Dezember 2014: "schließlich verzichtet meine Mandantin […] zunächst auf die Einrede der Verjährung bis Ende 2016".
Eine solche Erklärung kann aufgrund der Bezugnahme auf Aspekte, die nur nach deutschem, nicht aber nach dem unstreitig anwendbaren pakistanischem Recht eine Rolle spielen, nur eine Teilrechtswahl für die Frage der Verjährung bedeuten. Ein Verzicht wäre nach pakistanischem Recht ohnehin nicht möglich. Bei der Verjährung handelt es sich im pakistanischen Recht eben nicht um eine Einrede und eine solche Erklärung hätte auch unter dem Aspekt, dass die Ansprüche nach pakistanischem Recht zu diesem Zeitpunkt bereits verjährt wären, keinen Sinn ergeben.
Fragen der Verjährung werden in der Praxis des Common Laws zudem weitaus flexibler gehandhabt. Insbesondere bei sehr kurzen Verjährungsfristen gehen Gerichte regelmäßig davon aus, dass Verhandlungen die Verjährung unterbrechen. Dies ist auch sinnvoll, da andernfalls Parteien nicht die Möglichkeit hätten, zu verhandeln.
Das diesbezügliche Gutachten des Professors der University of Bristol rügten die Klägervertreter als nicht tragfähig. Es enthalte statt materiellrechtlicher Erwägungen einzig den Versuch, ein von den Kläger vorgelegtes Urteil als nicht vergleichbar abzutun. Das sogenannte Common Law, das vor allem in ehemaligen britischen Kolonien und Großbritannien Anwendung findet, basiert anders als das sogenannte Civil Law, also die kontinentaleuropäisch geprägten Rechtstraditionen, nicht auf Gesetzen, sondern auf Präzedenzfällen.
Der Lehrbuchfall des Ordre-public-Vorbehalts
Nicht zuletzt spricht auch der Ordre-public-Vorbehalt gegen die Annahme der Verjährung nach pakistanischem Recht innerhalb eines Jahres.
Unter praktischen Gesichtspunkten wäre es den Klägern niemals möglich gewesen, innerhalb eines Jahres nach dem Brand eine Zivilklage vor deutschen Gerichten anhängig zu machen. Die Anwendung des eigentlich anwendbaren Rechts ist nach Artikel 26 der Rom-II-Verordnung ausgeschlossen, wenn die Anwendung "mit der öffentlichen Ordnung ("ordre public") des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist". Bei Verjährungsregeln, die effektiven Rechtsschutz praktisch unmöglich machen, handelt es sich um den Lehrbuchfall.
Mit der Klageabweisung vermeidet es das LG, Beweis darüber zu erheben, wie es 2012 zu dem Brand in Karatschi und zu der ungewöhnlich hohen Opferzahl kam. Zeugen aus Karatschi hätten geladen und nach Deutschland eingeflogen werden müssen. Ihre Vernehmung wäre nur durch Dolmetscher möglich gewesen und hätten gewiss mehrere Verhandlungstage in Anspruch genommen.
Die Geschichte muss noch nicht vorbei sein. Es bleibt abzuwarten, ob die Kläger Berufung gegen das Urteil einlegen. Dies können sie innerhalb eines Monats ab Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe tun. Für Klägerin Saeeda Khatoon, die bei dem Brand ihren einzigen Sohn verlor, ist das Verfahren trotz Abweisung der Klage schon jetzt ein wichtiger Schritt im Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen.
*Anzahl der Arbeiter korrigiert am 16.01.2019, 13.44 Uhr.
Die Autorin Michaela Streibelt ist Rechtsanwältin in Berlin. Vor ihrer anwaltlichen Tätigkeit hat sie beim ECCHR gearbeitet. Die NGO betreut das Verfahren gegen KiK auf Klägerseite.
LG Dortmund weist Klage gegen KiK ab: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33141 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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