Aktivist Arne Semsrott muss sich vor dem LG Berlin I wegen des umstrittenen § 353d StGB verantworten. Ans BVerfG vorlegen will das Gericht zwar nicht, lässt nach aufwendiger Verhandlung aber erkennen: Es braucht eine Abwägung im Einzelfall.
Der Saal 700 in dem zur Kaiserzeit errichteten Kriminalgericht Moabit ist ein Gerichtssaal, wie man ihn sich vorstellt. Hohe Decken, erhöhte Sitze für Richter und Schöffen, lange Bänke für Angeklagte, Verteidigung und Staatsanwaltschaft – alles eingekleidet in dunkle Holzvertäfelung. Der große Saal hatte außerdem eine Loge für den Kaiser oberhalb der Richterbank, die heutzutage leer bleibt.
"Es ist passend, dass wir diesen Fall hier heute verhandeln", kommentierte der Angeklagte Arne Semsrott die Raumwahl am Mittwoch in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht (LG) Berlin I. "Die Kaiserloge in diesem Saal ist ebenso aus der Zeit gefallen wie der Straftatbestand, um den es hier geht."
Damit meint er § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB). Der verbietet die wortgetreue Veröffentlichung der Anklageschrift oder anderer amtlicher Dokumente in laufenden Strafverfahren, solange diese nicht in einer späteren Hauptverhandlung erörtert worden sind. Eine Ausnahme oder Abwägungsmöglichkeit für die Wahrnehmung berechtigter Interessen sieht das Gesetz nicht vor. Ein starres Verbot also, das in dieser Gestalt seit 1974 existiert, seine Ursprünge aber – wie das Gerichtsgebäude – in der Kaiserzeit hat.
Dass diese Regelung mittlerweile veraltet ist, da sollte das Gericht Semsrott später indirekt zustimmen. Von der Auffassung, die Strafvorschrift sei wegen Verletzung der Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit verfassungswidrig, konnten der Angeklagte und sein Verteidiger Dr. Lukas Theune die Strafkammer jedoch nicht überzeugen. An das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wird das LG den Fall daher nicht vorlegen, sondern Semsrott am Freitag wohl verurteilen. Das hatte LTO bereits im Vorfeld vermutet.
Vorsitzender Richter liest LTO-Bericht vor
Wäre das Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt, hätte es das Hauptverfahren wohl gar nicht erst eröffnet. Stattdessen hätte es das Verfahren direkt ausgesetzt und das BVerfG im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Grundgesetz (GG) mit der Prüfung befasst, ob § 353d Nr. 3 StGB gegen das Grundgesetz verstößt. Dass die Strafkammer dazu nicht bereit war, liegt auch daran, dass das BVerfG die Norm bereits 1985 und 2014 abgesegnet hat, wobei es nur im ersten Fall um eine Veröffentlichung durch einen Journalisten ging.
Außer dieser verfassungsrechtlichen Frage ist Semsrotts Fall unstreitig: Dass der Aktivist drei Beschlüsse des Amtsgerichts München aus dem Ermittlungsverfahren gegen die "Letzte Generation" im Wortlaut auf der Website von FragDenStaat veröffentlicht hatte, räumte er direkt ein. Die Beschlüsse sind außerdem nach wie vor abrufbar, unter einem Zeitstempel vom 22. August 2023. Dass seine so transparent dokumentierte Tat unter das Verbot des § 353d Nr. 3 StGB fällt, wusste Semsrott auch. Das gab er gleich zu Beginn der Verhandlung am Mittwoch zu.
Also hätte das Gericht kurzen Prozess machen können – wollte es aber ganz offensichtlich nicht. Das merkten die gut 50 Zuschauer und Medienvertreter im Saal schon, als der Vorsitzende Richter Semsrott nach dessen Eingangsstatement zum Rechtsgespräch auf Augenhöhe einlud: Ob Semsrott keine Gefahren für den Rechtsstaat sehen würde, wenn man § 353d Nr. 3 StGB ersatzlos streichen würden, fragte Bo Meyer.
Verteidiger Theune sprang für den etwas verdutzten Angeklagten ein: Wenn eine Medienberichterstattung in einem laufenden Strafverfahren Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten verletze, könnten die Pressekammern der Zivilgerichte damit umgehen. "Die sind es auch gewohnt, schnell zu reagieren – im Eilverfahren", so Theune. Man könne dort auf eine "jahrzehntelange Abwägungspraxis" zurückgreifen. Einen Straftatbestand bräuchte es nicht.
Noch mehr Akribie legte Meyer an den Tag, als er über eine halbe Stunde lang Presseerklärungen der Generalstaatsanwaltschaft München zum Ermittlungsverfahren gegen "Letzte Generation" sowie zwei online verfügbare Zeitungsberichte von LTO bzw. der taz über die Gerichtsbeschlüsse verlas. In beiden Fällen Wort für Wort, inklusive des jeweiligen Hinweises, selbst nicht wörtlich aus den Beschlüssen zu zitieren, um keine Strafverfolgung zu riskieren. Die drei Beschlüsse selbst verlas Richter Meyer nicht, Verteidiger Theune und Oberstaatsanwalt Hild stimmten einem Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) zu.
Wissenschaftlerin warnt vor Verlust von Medienvertrauen
Schließlich entsprach die Kammer sogar einem Antrag der Verteidigung, eine Kommunikationswissenschaftlerin als Sachverständige anzuhören. Sie sollte darlegen, warum wörtliches Zitieren für eine authentische Presseberichterstattung in der heutigen Zeit unerlässlich sei. Oberstaatsanwalt Hild hatte zwar Bedenken, ob das überhaupt ein echter Beweisantrag sei. "Ich würde mich aber auch nicht dagegen wehren. Ich kann nicht ausschließen, dass es zur weiteren Erhellung des Sachverhalts beiträgt", so Hild.
Das bewahrheitete sich nur bedingt, wie sich nach einer gut anderthalbstündigen Unterbrechung zeigte. Prof. Dr. Franziska Oehmer-Pedrazzi, Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin an der Fachhochschule Graubünden (Schweiz), stellte den wenig ergiebigen Forschungsstand vor: Experimentalstudien hätten gezeigt, dass Medienberichte mit wörtlichen Zitaten ein höheres Vertrauen der Rezipienten genießen als solche, die auf wörtliche Zitate verzichten. Dieses Vertrauen nutze sich angesichts der zahlreichen alternativen Medienformate heutzutage mehr und mehr ab. In den 70er Jahren – als § 353d Nr. 3 StGB seine heutige Fassung erlangte – und in den 80ern – als das BVerfG die Norm zuletzt an der Pressefreiheit maß – sei das noch ganz anders gewesen. Semsrott, Theune und die das Verfahren unterstützende Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) leiten daraus ab, dass die Strafvorschrift nicht nur aus der Zeit gefallen ist, sondern antidemokratischen Lügenpresse-Narrativen nicht wirksam begegnen kann. Auch Oehmer-Pedrazzi sieht darin eine Gefahr.
Die beiden Berufsrichter stellten viele interessierte Fragen, die Kammer ließ sich am Ende aber nicht davon überzeugen, dass der Gesetzeszweck des § 353d Nr. 3 StGB gänzlich überholt sei. Dem Gesetzgeber von 1974 ging es u.a. darum, die "Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich von Laienrichtern und Zeugen, zu schützen". Das Verbot soll verhindern, dass spätere etwaige Schöffen und Zeugen bereits vor Prozessbeginn die Meinung eines Ermittlungsrichters zu den Vorwürfen erfahren.
Aber lassen sich Schöffen wirklich von der Medienberichterstattung beeinflussen? Auch das wurde Oehmer-Pedrazzi gefragt. Die Studienlage sei aber dünn. In den USA hätten sich nur – aber immerhin – "ein kleiner bis moderater Einfluss" auf die Urteilsfindung gezeigt. Auch zwei Studien aus Deutschland wiesen in diese Richtung. Allerdings handele es sich dabei lediglich um Befragungen von Richtern und Schöffen, ob sie Medienberichte über ihre eigenen Fälle verfolgten und inwiefern sich diese auf ihre Urteilsfindung ausgewirkt hätten. Die Befragten müssten also zugeben, dass sie sich schon mal von der Presse haben beeinflussen lassen. Wenn diese Studien einen größeren Effekt ausgewiesen hätten, "hätte mich das auch gewundert", kommentierte Richter Meyer nicht ohne eine gewisse Selbstironie.
LG Berlin: EGMR-Rechtsprechung verpflichtet zur Abwägung
Danach zog sich das Gericht ein zweites Mal zurück. Nach zehn Minuten Pause war es Richter Meyer, der in den Transparenzmodus schaltete. Er stellte klar, was bislang, soweit ersichtlich, noch kein Strafgericht entschieden hat: dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) das Verbot des § 353d Nr. 3 StGB zu starr sei. Der EGMR hatte es 2011 als Verstoß gegen die Pressefreiheit gewertet, dass eine portugiesische Journalistin wegen frühzeitiger Veröffentlichung einer Anklageschrift ohne Abwägung im Einzelfall zu einer Geldstrafe verurteilt worden war (Urt. v. 28.06.2011, Az. 28439/08). Der Gerichtshof habe Abwägungskriterien entwickelt, die in einem solchen Fall zwingend anzuwenden seien, so Meyer zur Freude der Verteidigung.
Der Vorsitzende ging die relevanten Kriterien durch: Ist das Dokument legal oder illegal erworben worden? Hier legal – Punkt für Semsrott. Handelt der Journalist eindeutig und bewusst verbotswidrig oder handelt es sich um einen Grenzfall? Hier Ersteres – 1:1.
Klar für Semsrott spreche, dass die Beschlüsse einen Beitrag zu einer politischen Diskussion von allgemeinem Interesse leisteten und Kritik am Handeln der Justiz – auch im Ermittlungsverfahren – in einem Rechtsstaat essenziell sei. "Der Beitrag ist auch nicht reißerisch geschrieben, es wird niemand vorgeführt", so Meyer. Allerdings fand der Richter ein weiteres gewichtiges Gegenargument: Die Beschlüsse stellten den Ermittlungssachverhalt überwiegend im Indikativ dar. Juristische Laien könnten den Eindruck gewinnen, dass das Gericht den Sachverhalt zu den Mitgliedern der “Letzten Generation” bereits festgestellt hat und nicht lediglich einen Anfangsverdacht prüft. "Die Gefahr besteht jedenfalls", so Meyer.
Alles in allem könne man Semsrott hier aber allenfalls einen geringen Vorwurf machen. Nur: Wo berücksichtigt man diese richterliche Abwägung?
"Wir wollen von dieser Kammer eine Entscheidung"
Derart offene Ausführungen des Gerichts zur eigenen Rechtsauffassung kennt man sonst eher aus Zivilverfahren. Da geht es dann meist darum, die Parteien zu einem Vergleich zu bewegen. Im Strafverfahren kommt bei geringer Schuld eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO in Betracht – und genau darauf wollte Meyer hinaus. Aber: Dann wäre das Verfahren ohne Begründung zu Ende, ein Gang nach Karlsruhe ausgeschlossen. Dass das LG Berlin eine Abwägung im Einzelfall für nötig hält, wüssten dann nur die Beteiligten und Zuschauer im Saal 700. Und wie sie in diesem Fall ausgeht, wüsste niemand.
"Ich schätze Ihre transparente Verhandlungsführung sehr. Wir können das auch nochmal besprechen", erwiderte Verteidiger Theune. Aber seinem Mandanten gehe es darum, grundsätzlich klären zu lassen, ob § 353d Nr. 3 StGB verfassungskonform ist. Eine Verfahrenseinstellung ohne Begründung sei daher weniger wertvoll als eine Verurteilung: "Ihre Abwägung anhand der EGMR-Kriterien wäre hier schon ein wertvolles Stück Papier", so Theune.
Die anschließende kurze Beratung ergab nichts Neues: "Wir wollen von dieser Kammer eine Entscheidung", verkündet Theune. Die werden Semsrott, seine Verteidiger und die GFF am Freitag bekommen. Wahrscheinlich wird der FragDenStaat-Gründer dann zu einer Geldstrafe verurteilt. Staatsanwalt Hild beantragte 40 Tagessätze zu je 50 Euro, das Plädoyer der Verteidigung steht noch aus. Semsrott selbst betonte nach der Verhandlung gegenüber LTO: Er hoffe auf ein Urteil, das ermöglicht, die Instanzen auszuschöpfen und am Ende nach Karlsruhe zu ziehen.
Landgericht schaltet in den Transparenzmodus: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55648 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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