Italien: Eine Jus­tiz­re­form mitten in der Krise

Gastbeitrag von Prof. Dr. Francesco Palermo

30.07.2022

Italien geht eine umfangreiche Reform seines Justizsystems an. Kann die mit überlangen Gerichtsverfahren aufräumen oder ist sie nur ein Zugeständnis an die EU? Francesco Palermo sieht eine Chance.

Das italienische Justizsystem zeichnet sich traditionell durch starke Garantien zugunsten der richterlichen Unabhängigkeit aus – allerdings auch durch strukturelle Schwächen, insbesondere in Bezug auf die Dauer der Verfahren.

Vor kurzem wurde im Juni 2022 ein neues Gesetz verabschiedet, das sich mit den Aspekten der Unabhängigkeit des Justizsystems befasst. Die Reform zielt darauf ab, die Organisation des Justizwesens zu regeln, z.B. die Rollenverteilung zwischen Richtern und Staatsanwälten, die Leistungsbewertung und die Zusammensetzung des Obersten Justizrats. Das Gesetz ist Teil eines ehrgeizigen Reformpakets, das das italienische Justizwesen effizienter machen soll.

Richterliche Unabhängigkeit in der italienischen Verfassung

Die richterliche Unabhängigkeit ist einer der Hauptpfeiler der Verfassung, sie ist als Reaktion auf das ehemalige faschistische Regime in Italien zu sehen. Die Artikel 104 und 108 der Verfassung schreiben vor, dass Richter nur dem Gesetz unterworfen sind, dass Richter und Staatsanwälte (beide werden im italienischen Justizsystem zusammen als "Magistrati" bezeichnet) verfahrensgemäß eingestellt werden und dass ein Selbstverwaltungsorgan für Richter und Staatsanwälte eingerichtet wird (der Oberste Justizrat, Consiglio Superiore della Magistratura, CSM), das mit starken Befugnissen und großer Unabhängigkeit ausgestattet ist. Zwei Drittel seiner Mitglieder werden von Richtern und Staatsanwälten gewählt, ein Drittel wählt das Parlament mit qualifizierter Mehrheit.

Interessierte Leser werden sich vielleicht daran erinnern, dass es die Justiz war, die 1992 die massive Korruption in der Politik im so genannten "clean hands"-Skandal aufdeckte, was ein Erdbeben im politischen Leben Italiens auslöste und das politische System destabilisierte. Im Nachgang wurden alle bestehenden politischen Parteien aufgelöst, auch diejenigen, die nicht von Korruptionsfällen betroffen waren, wie die kommunistische Partei und die neofaschistische "soziale Bewegung". Seitdem sind die politischen Parteien extrem schwach und unbeständig, meist personalisiert, mit sehr wenigen Mitgliedern und haben in der öffentlichen Meinung ein sehr negatives Image - im Gegensatz zur Justiz, die in Umfragen deutlich besser abschneidet. Nach den jüngsten Umfragen des nationalen Statistikinstituts vom Mai 2022 liegen die Parteien mit weniger als 20 Prozent auf dem letzten Platz des Vertrauensindexes, während etwa 50 Prozent der Befragten der Justiz vertrauen. Dieser Trend dürfte sich durch die jüngste politische Krise und das Ende der von Premierminister Mario Draghi geführten Regierung bestätigen.

Justizreformen in den letzten 30 Jahren

In den letzten 30 Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, die Justiz zu reformieren. Zu den häufigsten Argumenten für Reformen gehören vor allem die Ineffizienz und die Länge der Verfahren. Etwa ein Drittel der Personen in italienischen Gefängnissen befindet sich in Untersuchungshaft. Das Land zahlt jährlich über 30 Millionen Euro für ungerechtfertigte Inhaftierungen, nachdem es Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verloren hat; über 60 Prozent der italienischen Fälle in Straßburg betreffen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Recht auf ein faires Verfahren. 1999 gab es eine weitreichende Reform von Artikel 111 der Verfassung zur Frage des fairen Verfahrens.

Es gab auch offene Vorwürfe, dass das Justizwesen politisiert werde, und zwar insbesondere unter den Regierungen von Silvio Berlusconi, der mehrere Änderungen am Justizsystem durchführte. Viele dieser Änderungen dienten dazu, Berlusconi selbst zu schützen, wie z. B. die Einschränkung der Möglichkeiten, gegen ein Urteil Berufung einzulegen, die Möglichkeit für den Angeklagten, nicht an einem Prozess teilzunehmen, wenn ein "legitimer Grund" geltend gemacht werden kann, die Einschränkung der Verjährungsfristen und vieles mehr. Einige dieser Änderungen wurden vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.

Sicherlich ist der Korporatismus, also die Beteiligung organisierter Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen, in der Justiz (wie in vielen anderen Berufsgruppen in Italien) ein Problem. Seit die Bürgerinnen und Bürger 1987 mit überwältigender Mehrheit für die Einführung einer direkten zivilrechtlichen Haftung von Richtern und Staatsanwälten stimmte, die Urteile in böser Absicht fällen (was jedoch nie umgesetzt wurde), wurden mehrere Volksabstimmungen zu Justizfragen abgehalten. Erst am 12. Juni 2022 wurden in Italien fünf Referenden zu mehreren wichtigen Themen abgehalten, darunter die Untersuchungshaft, die Trennung der beruflichen Laufbahn von Richtern und Staatsanwälten, die Amtsenthebung verurteilter Politiker und die Wahlen zum Obersten Justizrat. Die Abstimmungen erreichten jedoch bei weitem nicht das erforderliche Quorum und brachten keine Änderungen.

Die jüngsten Reformen: Strafrecht, Zivilprozessrecht, Justizsystem

Die Reform des Justizwesens stand in den letzten 30 Jahren immer wieder auf der politischen Agenda. Mit der Verabschiedung des italienischen Konjunkturprogramms, dem sog. Italian Recovery and Resilience Plan (RRP), als Antwort auf ein EU-Recovery-Programm 2021, wurde die Reform jedoch erheblich beschleunigt. Eine strukturelle Reform des Justizsystems ist eine der Säulen des italienischen RRP, und die EU-Mittel sind an die Reform gebunden. Das sorgte für einen politischen Impuls, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hat. Bislang stritten die politischen Lager in dieser Frage heftig. Nun werden einzelne Parteien oft als "Pro-Richter" (meist auf der linken Seite) und "Anti-Richter" (meist auf der rechten Seite) bezeichnet. Die parteiübergreifende Regierung unter Premierminister Mario Draghi, der für die Umsetzung des RRP verantwortlich ist, hat erfolgreich eine vierstufige Reform des Justizwesens verabschiedet, mit der die Verpflichtungen aus den EU-Bedingungen erfüllt werden sollen. Das Reformpaket ist nach der amtierenden Justizministerin Marta Cartabia benannt, einer bekannten Verfassungsrechtsprofessorin und ehemaligen Präsidentin des Verfassungsgerichts. 

Die erste gesetzgeberische Maßnahme im Zusammenhang mit dem RRP war ein Gesetzesdekret, das die Regierung "in außerordentlichen Fällen von Dringlichkeit und Notwendigkeit" (Art. 77 der Verfassung) verabschieden kann und das innerhalb von zwei Monaten vom Parlament ratifiziert werden muss. Das Dekret, das im Juni verabschiedet und im August 2021 ratifiziert wurde, trug übersetzt die offizielle Bezeichnung "dringende Maßnahmen zur Stärkung der Effizienz der öffentlichen Verwaltung und des Justizsystems, die für die Umsetzung des RRP erforderlich sind" (Hervorhebung hinzugefügt). Die Notwendigkeit, das RRP umzusetzen, war auch Grund für die Verabschiedung einer außerordentlichen Rechtsvorschrift. Mit dieser Vorschrift wurde vor allem die Einstellung von neuem Verwaltungspersonal für die Justiz in allen Gerichten (unter Verwendung von RRP-Mitteln) auf den Weg gebracht, um der Unterbesetzung der Justizbehörden entgegenzuwirken.

In den letzten Monaten wurden drei weitere Gesetze verabschiedet, die die Effizienz verbessern und die Dauer der Gerichtsverfahren verkürzen sollen. Sie folgen den spezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission an Italien aus den Jahren 2019 und 2020.

Mit einem Gesetz zum Strafverfahren werden einige unmittelbare Reformen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung umgesetzt. Sie sehen unter anderem vor, dass Verfahren blockiert werden, wenn das Berufungsurteil nicht innerhalb von zwei Jahren und die Rechtmäßigkeitsprüfung durch den Obersten Gerichtshof nicht innerhalb eines weiteren Jahres erfolgt. Wenn die Fristen nicht eingehalten werden, wird der Fall verworfen. Zum anderen wird die Regierung anhand von Leitlinien ermächtigt per Dekret, das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung innerhalb eines Jahres zu ändern.

In ähnlicher Weise ermächtigt das Zivilprozessgesetz die Regierung, innerhalb eines Jahres eine weitreichende Reform der Zivilprozessordnung zu verabschieden, die alle wichtigen Bereiche betrifft, von der Arbeitsgerichtsbarkeit über die Familiengerichtsbarkeit bis hin zur Zwangsvollstreckung. Bislang ist es trotz mehrerer kleinerer Reformen immer noch relativ einfach, Gerichtsverfahren zu verzögern, insbesondere im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern. Es ist erwiesen, dass eine langsame Ziviljustiz die wirtschaftliche Entwicklung bremst, und dies wird in Italien höchstwahrscheinlich ein Problem bleiben. Trotz kleinerer Verbesserungen in den letzten Jahren gehört die Ziviljustiz in Italien zusammen mit Griechenland und Malta zu den langsamsten in Europa.

Das jüngste Gesetz, das im Juni 2022 verabschiedet wurde, befasst sich mit organisatorischen Reformen des Justizsystems. Zwar bleibt es möglich, in der Justizkarriere zwischen Richterschaft und Staatsanwaltschaft zu wechseln, doch kann dies in der Regel nur noch einmal in der Laufbahn eines Richters bzw. eines Staatsanwaltes geschehen. Dies stellt einen Kompromiss dar zwischen denjenigen, die es für die richterliche Unabhängigkeit für notwendig halten, dass Richter und Staatsanwälte frei zwischen ihren Rollen wechseln können, und denjenigen, die dies im Hinblick auf die Gewaltenteilung für problematisch halten.

Strengere Leistungsbewertung bei Richtern und Staatsanwälten

Es wurden außerdem neue Regeln für die Zusammensetzung und die Wahl des Selbstverwaltungsorgans, dem Obersten Justizrat CSM, eingeführt, um seine Kontrolle durch organisierte Gruppen von Richtern zu verringern, die häufig politische Präferenzen widerspiegeln. So kann nun jeder Richter oder Staatsanwalt seine Kandidatur beim CSM einreichen, ohne dass er mindestens 25 Unterschriften von Kollegen aus demselben Gerichtsbezirk sammeln muss. In der bisherigen Praxis bedeutete das, dass er von einer der organisierten Gruppen innerhalb des Justizwesens unterstützt wurde, die in der Regel politische Zugehörigkeiten widerspiegeln - es sei daran erinnert, dass Richter und Staatsanwälte in Italien während ihrer Amtszeit nicht Mitglied einer politischen Partei sein dürfen. Die neuen Vorschriften erschweren Richtern und Staatsanwälten die Kandidatur für politische Wahlen und schließen aus, dass sie nach der Ausübung eines politischen Mandats in ihr Richteramt zurückkehren.

Mit der Reform wird auch eine sehr viel strengere Bewertung der Leistung der einzelnen Richter und Staatsanwälte eingeführt, was bisher unüblich war. Die Einzelheiten einer solchen Bewertung, auch im Hinblick auf die organisatorischen Kapazitäten, werden von der Regierung und dem CSM selbst festgelegt. Die regelmäßige Bewertung, die alle vier Jahre stattfindet, wird von den Justizräten vorgenommen, die sich aus Richtern und Staatsanwälten, aber auch aus Rechtsanwälten und Universitätsprofessoren zusammensetzen, die nun nicht mehr nur beraten, sondern auch in die endgültige Entscheidung einbezogen werden.

Was bleibt von den Ansprüchen übrig?

Die Meinungen in der Justiz zu den jüngsten Reformen gehen auseinander. Für einige Richter und Staatsanwälte sind sie nicht viel mehr als ein Lippenbekenntnis zum RRP, um Geld zu erhalten, aber nicht sehr anspruchsvoll. Für den Vorsitzenden der Richtervereinigung stellen sie hingegen eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz dar. 

Wie dem auch sei, es lässt sich nicht leugnen, dass das Reformpaket den Kern der Probleme der italienischen Justiz trifft: die Länge und Komplexität der Verfahren und den Korporatismus unter den Richtern und Staatsanwälten. Die Lösung dieser Probleme war längst überfällig, und die strenge Verpflichtung, die das RRP auferlegt, hat politische Bedingungen geschaffen, die es vorher nicht gab. Die Chance wird von der Politik ergriffen, und das ist eine gute Nachricht. Es bleibt abzuwarten, ob das Ergebnis den ursprünglichen Ambitionen gerecht wird. 

Italien hat mit der Europäischen Kommission zwei ehrgeizige Ziele ausgehandelt, nämlich die Verkürzung der Dauer von Strafverfahren um 25 Prozent und die von Zivilverfahren um 40 Prozent (!) innerhalb der nächsten fünf Jahren. In diesem Zusammenhang würde selbst ein bloßes Lippenbekenntnis zur Erreichung solcher Ergebnisse schon eine beispiellose Verbesserung bedeuten. 

Das Reformpaket hat Potenzial, war längst überfällig und ergreift eine historische politische Chance. Sein Ergebnis kann erst dann bewertet werden, wenn die geplanten Reformen, die durch die Gesetze an die Regierung delegiert werden, abgeschlossen sind. Eigentlich war der Plan, dies vor den Wahlen Anfang 2023 noch abzuschließen. Das unerwartete Auseinanderbrechen der Mehrheit hinter Premierminister Draghi im Juli 2022 lässt es wenig wahrscheinlich erscheinen, die Reform vor den vorgezogenen Neuwahlen am 25. September 2022 abzuschließen. So wie es aussieht, wird die vollständige Umsetzung der Reform in der Hand der nächsten Regierung liegen, in einem politischen Klima, in dem eine Rückkehr zu Polarisierung und politischer Konfrontation zu befürchten ist.

Francesco Palermo ist Professor für vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität von Verona und Leiter des Instituts für vergleichenden Föderalismus bei Eurac Research in Bozen http://www.eurac.edu/fpalermo

Zitiervorschlag

Italien: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49189 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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