2016 war geprägt von humanitären Katastrophen und politischen Umstürzen. Wo sich die Ereignisse so überschlagen, kommt das Recht kaum hinterher, und ist oft auch gar nicht erwünscht. Kein Grund, sich rauszuhalten, findet Constantin van Lijnden.
Wenn ich, was ich ungern tue, auf das vergangene Jahr zurückblicke, dann sind es nicht zuerst juristische Entwicklungen, die mir in den Sinn kommen. An den Gerichten liegt das nicht: Sie haben 2016 ebenso viele interessante und bedeutsame Fälle entschieden wie in den Jahren zuvor. Doch es fällt schwer, Urteilen zu so mondänen Problemen wie der Beweislastumkehr beim Gebrauchtwagenkauf, dem Ausschüttungsmodell der VG Wort oder selbst der Verhöhnung überempfindlicher Staatsoberhäupter viel Aufmerksamkeit zu widmen, wenn sich zur selben Zeit ein Genozid am syrischen Volk vollzieht, eine Terrorwelle Europa erschüttert und die bedeutendste Demokratie der Welt einen unberechenbaren Egomanen zu ihrem Führer wählt.
Das ist nicht bloß eine Frage der Wahrnehmung, sondern spiegelt sich auch im Modus der Entscheidungsfindung: Je größer der Umbruch, desto kleiner die Rolle, die das Recht darin spielt. Das gilt im Krieg, wo einfache Normen faktisch vollends außer Kraft gesetzt sind, und in der Krise, wo sie den vermeintlichen Sachzwängen des Augenblicks oft ohne viel Federlesen geopfert werden. Je größer die Ängste und je turbulenter die Lage, desto weniger Konjunktur haben juristische Tugenden wie umfassende Sachverhaltsermittlung oder sorgfältige Abwägung.
In Frankreich etwa gilt seit mehr als einem Jahr der Ausnahmezustand – Ausgangssperren, Durchsuchungen und Hausarreste können dort seitdem ohne richterlichen Beschluss verhängt und vollzogen werden. In Polen ist man mit dem Rückbau justizieller Kontrollmechanismen schon sehr viel weiter; inopportune Entscheidungen des dortigen Verfassungsgerichts lässt die Regierung gar nicht erst veröffentlichen und beantwortet sie mit "Reformen", die die Lähmung des Gerichts zur Folge haben. Der türkische Präsident hat nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli keine zwei Tage verstreichen lassen, um mehrere tausend Richter ihres Amtes zu entheben. Und auch in Deutschland werden verfassungsrechtlich sehr fragwürdige Vorhaben wie die BND-Reform sehenden Auges verabschiedet.
Gerade Juristen sind gefragt
Diese bloß bruchstückhafte Aufzählung soll keine Gleichwertigkeit in der Schwere oder Zielsetzung der politischen Übergriffe implizieren. Im Gegenteil: So mancher liberale Geist mag Erdogans Politik als die Machtergreifung eines Autokraten verurteilen und zugleich striktere Sicherheitsgesetze in Deutschland befürworten. Das langsame Aufbrechen festgefahrener Links-und-Rechts-, Gut-und-Böse-Schemata ist vielleicht einer der wenigen positiven Effekte, die die politischen Verschiebungen des vergangenen Jahres bewirkt haben.
Ein zweiter solcher Effekt könnte im Wachrütteln breiterer Teile der wahlberechtigten Bevölkerung liegen. Man muss nicht von Natur aus politikbegeistert sein, um dieser Tage ein Quäntchen Interesse für die Lösungsansätze der großen Parteien aufzubringen, sie von populistischen Verheißungen abzugrenzen, und seine Überzeugungen bei der Bundestagswahl 2017 an die Urne zu tragen. Es genügt bereits der Wille, mehr als ein Statist zu sein in einer Handlung, deren Ausgang man im Guten wie im Schlechten wird durchleben müssen.
Das sollte auch und gerade für Juristen eine Selbstverständlichkeit bedeuten, die schon dank ihrer Ausbildung überdurchschnittlich gut imstande sind, die Grenze zwischen rechtsstaatlich hinnehmbaren Kompromissen und unveräußerlichen Prinzipien zu erkennen. Die Politik mag in schweren Zeiten das Primat vor dem Recht beanspruchen – umso wichtiger, dass die Vertreter des Rechts sich in die Politik einbringen.
Constantin Baron van Lijnden, Mein Rückblick auf 2016: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21577 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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