Flüchtlingsrecht im Mittelmeer: Bei Anruf: Retten – und Abschieben

von Dr. Markus Sehl

16.03.2018

Spannen Italien und die EU bei der Seenotrettung völkerrechtswidrig Schiffe aus Libyen ein, um Flüchtlinge zurückzuschieben, statt sie zu retten? Ein Team von Anwälten und NGOs bereitet eine Klage beim EGMR vor.

Das mächtige Kriegsschiff unter italienischer Flagge steht unbeweglich im Wasser, davor wogt das Meer dunkelblau und aufgewühlt. In den Wellen schwankt davor ein mit Menschen überfülltes Schlauchboot. Das italienische Kriegsschiff liegt nur ein paar hundert Meter von dem Boot entfernt, aber es tut nichts; es wartet, blockiert offenbar sogar das Boot.

Solange, bis schließlich die libysche Küstenwache eintrifft. Erst ihr Schiff nimmt die Flüchtlinge aus dem Schlauchboot an Bord - und bringt sie zurück nach Libyen.

In der Ferne kann man ein flatterndes Banner an der Außenwand des wartenden italienischen Schiffs erkennen, "Keep away", "Bleibt weg" heißt es darauf. So zeigt es ein Video einer amerikanischen Journalistin aus dem September 2017, die an Bord des libyschen Schiffs mitgefahren war.

Völkerrechtsverstoß durch Unterlassen?

Mit dem Vorfall beschäftigt sich nun auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Angefordert hatte es die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke. Das 13 Seiten lange Dokument untersucht, ob europäische, vor allem also italienische Kriegsschiffe, im Mittelmeer mit einer neuen Taktik gegen Völkerrecht verstoßen. Der Verdacht: Weist Italien Flüchtlinge im Mittelmeer zurück – auch um den Preis seiner völkerrechtlichen und politischen Bindungen?

Nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) darf kein Vertragsstaat Flüchtlinge in Gebiete zurückweisen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist. Völkerrechtlich nennt man das "Refoulement" oder "push-back", also "Zurückschieben". Zurückgeschoben nach Libyen werden Flüchtlinge, die aus afrikanischen Ländern wie Eritrea oder Somalia geflohen sind und versucht haben, von der libyschen Küste aus per Boot nach Europa zu gelangen. Berichte von NGOs, aber auch Stellungnahmen von der UN lassen keine Zweifel daran, dass Libyen kein sicherer Staat für Flüchtlinge ist.

Aber fällt das Manöver des abwartenden italienischen Kriegsschiffs aus September 2017 unter dieses Verbot? Das Schiff drängte nicht aktiv Flüchtlingsboote zurück nach Libyen. Es hat eben nur abgewartet – offenbar auch blockiert. Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes sollte deshalb klären, ob GFK-Vertragsstaaten wie Italien auch durch Unterlassen gegen das Völkerrecht verstoßen können.

Seine Auslegung des Art. 33 GFK legt nahe, dass das ausreicht. "Demnach kommt es nicht auf das 'Wie' der Aus- oder Zurückweisung an, sondern allein auf deren Folgen. Hat eine Person die begründete Befürchtung, im Zielstaat verfolgt zu werden, so darf ein Staat 'in keiner Weise' – also weder durch aktives Tun noch durch Unterlassen – eine Aus- oder Zurückweisung vornehmen.", heißt es dort.

Britische Jura-Dozentin: "Verdrängung durch Stellvertreter"

Die Londoner Jura-Dozentin Violeta Moreno-Lax beobachtet die aktuelle Lage im Mittelmeer mit großer Sorge. "Die Italiener entwickeln dort eine neue Strategie, eine Art Kontroll-System, ohne mit den Flüchtlingen direkt in Kontakt kommen zu müssen." Es dient aus ihrer Sicht dazu, die Überfahrt von Libyen nach Europa zu blockieren. Moreno-Lax ist Dozentin an der Queen Mary Universität und forscht vor allem im Bereich Flüchtlings- und Menschenrechte.

Sie nennt das Vorgehen der Italiener "refoulement by proxy", "Verdrängung durch Stellvertreter". Das heißt: Die Italiener tun das, was die Libyer mangels Kapazitäten nicht können: Sie überwachen das Mittelmeer und orten Flüchtlingsboote. Und die Libyer tun das, was die Italiener, die an die Genfer Flüchtlingskonvention gebunden sind, lieber nicht wollen – bzw. auch gar nicht dürfen: Sie bringen die im Mittelmeer treibenden Flüchtlinge zurück nach Libyen.

"Weil Italien selbst nicht direkt solche push-back-Manöver ausführen darf, lassen sie die libyschen Akteure die push-backs ausführen, aber mit dem gleichen Resultat: Die Menschen landen zurück in Libyen – unter schlimmen Bedingungen."

Initiative bereitet Klage vor dem EGMR vor

Moreno-Lax bereitet zusammen mit anderen Wissenschaftlern, Anwälten und NGOs deshalb zur Zeit eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor. Die Initiative Search and Rescue Observatory for the Mediterranean (SAROBMED) dokumentiert Menschenrechtsverstöße bei der Seenotrettung im Mittelmeer und arbeitet nun gemeinsam intensiv an der Klage.

Allzu sehr ins Detail will Moreno-Lax gegenüber LTO nicht gehen, ihre Prozessstrategie soll nicht im Voraus bekannt werden.

Sie sieht Italien auch unter starkem politischen Druck. Zum einen aus Italien selbst, Anfang März fanden dort Parlamentswahlen statt, die Flüchtlingspolitik war ein großes Thema. Aber auch außen- und europapolitisch: Nach dem Türkei-Deal und der Aufrüstung an der Grenze bei Gibraltar bleibt für Flüchtlinge an der nordafrikanischen Küste nur noch der Weg über das Mittelmeer. Die Hauptverantwortung bleibt hier bei den Italienern.

Deutscher Jura-Professor: "Push-back-Manöver verstoßen gegen Völkerrecht"

Ein Push-back-Verbot könnte man aber nicht nur aus dem Flüchtlingsrecht der GFK ableiten, sondern auch aus Art. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Achtung der Menschenrechte.

Nach Ansicht des Trierer Jura-Professors Alexander Proelß, der eine Stellungnahme zur seerechtlichen Situation für NGOs im Mittelmeer geschrieben hat, unterlaufen die Italiener mit mutmaßlichen Push-back-Manövern im Mittelmeer ihre Verpflichtungen aus der EMRK. "Auf diese Weise machen sich die Europäer nicht unmittelbar die Hände schmutzig." – Libyen ist kein Vertragsstaat der EMRK.

Die EMRK gilt grundsätzlich nur auf den Territorien der Vertragsstaaten – damit stellt sich die Anwendbarkeitsfrage auf Hoher See, also in den Teilen der Meere, die keinem Staat zugeordnet sind. Ein EGMR-Grundsatzurteil aus 2012 hatte entschieden, dass das Refoulement-Verbot auch extraterritorial gelten kann, also auch für staatliche Hoheitsgewalt, die auf Hoher See zum Beispiel an Bord eines Schiffes ausgeübt wird.

"Deshalb verstoßen Push-back-Manöver nicht nur gegen Prinzipien der Menschlichkeit, sondern auch gegen geltendes Völkerrecht", so Proelß.

Arbeitsteilung beim Retten kann gefährlich werden

Über das Mittelmeer spannt sich ein unsichtbares kompliziertes Netz aus mehreren Rechtsgebieten. Wer dort auf Schiffen unterwegs ist, kann an Menschenrechtskonventionen wie die EMRK gebunden sein, aber auch an das Seevölkerrecht, kodifiziert vor allem im UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ) und in der Seenotrettungskonvention (SAR-Konvention). So verlangt der Art. 98 SRÜ von den Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass alle Schiffe unter ihrer Flagge in Seenot geratenen Menschen schnellstmöglich helfen.

Proelß weist auch darauf hin, dass Italien mit Push-back-Manövern eine einheitliche Verpflichtung aus dem Seenotrecht künstlich auseinanderreißt: Search and Rescue (SAR), also Suchen und Retten werde halb von den Italienern, halb von den Libyern übernommen. "Das ist seenotrechtlich hoch problematisch, weil so oftmals nicht die effektivste Rettung garantiert wird." Dazu verpflichte aber das internationale Seerecht. "Das ist im Lichte der EMRK nicht hinzunehmen."

Möglicherweise bekommt der EGMR bald Gelegenheit, dazu eine Entscheidung zu treffen.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, Flüchtlingsrecht im Mittelmeer: . In: Legal Tribune Online, 16.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27567 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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