Nach dem Vorstoß des rheinland-pfälzischen Justizministers, Scharia-Gerichte auch in Deutschland zuzulassen, warnen einige vor einer islamischen Paralleljustiz. Dabei ist nicht erst diese das Problem. Ein Plädoyer für den Rechtsstaat von Otto Depenheuer.
Wenn ein Justizminister islamische Schiedsgerichte in Deutschland grundsätzlich für zulässig hält, löst das absehbar eine Islam-Debatte aus. Eigentlich aber müsste es eine Rechtsstaatsdebatte sein. Historisch bedeutet der Rechtsstaat nämlich gerade die Ablösung des Rechts von religiös definierten Wahrheitsansprüchen. In Europa erfolgte dieser Prozess im Zuge der Reformation. Die Frage nach der religiösen Wahrheit des Rechts wurde überwunden durch die Frage nach der Kompetenz zur Rechtssetzung.
Da die religiöse Wahrheit als Quelle allen Rechts unklar geworden war, musste eine konfessionsunabhängige Rechtsquelle gefunden werden, der alle zustimmen konnten. In den modernen freiheitlichen Demokratien haben den demokratisch mit Mehrheit beschlossenen Gesetzen alle zugestimmt. Deshalb gelten sie allgemein und müssen von den Gerichten und den Verwaltungen ohne Ansehung der Person angewendet werden.
Vor diesem Hintergrund berührt es schon seltsam, wenn der rheinland-pfälzische Landesjustizminister Jochen Hartloff die säkulare Rechtsordnung eines freiheitlichen Verfassungsstaates von dieser Errungenschaft der europäischen Verfassungsschichte ein Stück weit verabschieden will. Denn genau darum geht es: Wenn Schiedsgerichte Konflikte nicht mehr nach Maßgabe des positiven Rechts lösen sollen, sondern anhand einer religiösen Rechtsquelle entscheiden dürfen, handelt sich um nichts weniger als um die partielle Selbstaufgabe des säkularen, für alle geltenden Rechtsstaates zugunsten einer religiösen, nur für bestimmte Gruppen maßgeblichen Ordnung. Hinter der unüberlegten Gedankenspielerei eines Justizministers steckt aber ein Trend, der seit einiger Zeit die Wurzeln des Rechtsstaates immer weiter untergräbt.
Den Rechtsstaat gibt es nicht zum Nulltarif
Der Rechtsstaat wurzelt in der Idee, dass nicht Menschen, sondern die Gesetze herrschen sollen. Wirklichkeit wird diese Idee dadurch, dass unabhängige Richter nur nach Maßgabe demokratisch beschlossener Gesetze konkrete Streitfälle entscheiden dürfen. Diese kulturelle Errungenschaft, auf deren mustergültige Umsetzung wir in Deutschland zu Recht stolz sind, hat freilich einen Preis: Rechtsentscheidungen kosten Zeit und Geld und kennen Gewinner und Verlierer. Zeit aber ist Geld und das hat in Zeiten der Staatsverschuldung auch der Staat immer weniger. Also muss die Justiz effizienter werden.
Und wie kann das geschehen? Zum einen, indem man die Richter mit Planzahlen zu effektiven Erledigungsquoten anhält, um mit minimalem Einsatz ein Maximum an Gerechtigkeit zu produzieren. Das mag ökonomisch zutreffend kalkuliert sein, ruiniert aber das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat, weil Gerechtigkeit eine unbedingte Bringschuld des Staates ist und deshalb keinen Preis haben darf.
Ein noch eleganterer Weg zur Effizienzsteigerung des Justizwesens ist es, wenn Rechtsprechung in Streitschlichtung mutiert. Nicht mehr, was im Einzelfall rechtens ist, sollen die Gerichte in teils aufwändigen Verfahren mit der Autorität des Gesetzes ("im Namen des Volkes") entscheiden, sondern einen angemessenen Ausgleich der divergierenden Interessen herbeiführen. So erfreuen sich Vergleiche vor den Gerichten seit langem höchster Beliebtheit, vermeiden sie doch aufwendige Beweiserhebungen, komplizierte Rechtsinterpretationen und ausführliche Urteilsbegründungen.
Vergleiche, Deals und Mediation: Das Gesetz als bloße Verhandlungsmasse
Zudem gibt es beim Vergleich keine Sieger und Verlierer: Alle Parteien bekommen etwas und sind deswegen zwar nicht ganz zufrieden, aber auch nicht ganz unzufrieden. Der "Deal im Strafprozeß", also das Aushandeln des Strafmaßes, hat es gar zu berüchtigter Berühmtheit gebracht. Zugegeben: der "Deal" ist vordergründig billig und effizient, aber auch geeignet, das Vertrauen des Bürgers in das dann nur noch vermeintlich "für alle geltende Gesetz" nachhaltig zu untergraben. Der absehbare Preis zunehmender Rechtsverunsicherung könnte demgegenüber viel höher ausfallen.
Am effizientesten aber ist es, die Justiz erst gar nicht mit Rechtsfällen zu belasten und die Sorge um die Gerechtigkeit zu privatisieren. Mediation lautet die entsprechende moderne Zauberformel um die Justiz zu entlasten. Mediation sieht sich als eine konstruktive Konfliktlösung mit Hilfe einer neutralen, dritten Person, bei der es um Einsicht und nicht um Rechthaberei gehe. Da es bei der Mediation keine Verlierer gebe, könnten beide Parteien im konstruktiven Gespräch nur gewinnen.
Dieser attraktive Gedanke erfreut sich derzeit europaweit modischer Beliebtheit und hat nun zum Entwurf eines "Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung" geführt. Doch Mediation kann den Rechtsstaat auch untergraben, weil es bei der Mediation darum geht, einen Konflikt beizulegen, nicht, ihn nach Maßgabe des Rechts zu entscheiden. Nicht mehr das objektive, für alle geltende staatliche Recht ist ausschlaggebend für das Ergebnis, sondern persönliche Autorität, rhetorische Fähigkeit und taktisches Geschick des Mediators einerseits und die frei bestimmbare Grundlage des Mediationsverfahrens. Das Gesetz herrscht nicht mehr, sondern wird maximal nur noch Teil der Verhandlungsmasse: Der Konsens ist alles, das Recht nichts.
Keine Befriedung um jeden Preis
Man sieht: Das neue Mediationsgesetz und der Vorschlag des Justizministers nach Einführung islamischer Schiedsgerichte greifen fugenlos ineinander. Auf der Basis des künftigen Mediationsgesetzes können Konflikte unter Muslimen selbstverständlich auch vor einen muslimischen Mediator getragen werden. Natürlich kann dieser im Konsens mit den Beteiligten auch die Scharia zur Grundlage der Konfliktbeilegung machen. Denn es kommt ja nicht mehr auf die Entscheidung in Übereinstimmung mit dem staatlichen Recht an, sondern auf die Befriedung eines Konfliktes.
Doch es stellt sich die Frage: Ist Befriedung wirklich ein Wert, wenn er mit der Aufgabe der Autorität des "für alle geltenden Gesetzes" bezahlt wird? Tatsächlich könnte sich über das Mediationswesen eine gesetzlich autorisierte Paralleljustiz etablieren: Sozialer Gruppendruck könnte Muslime dazu veranlassen, sich an muslimische Schiedsgerichte zu wenden. Diejenigen, die sich islamischen Schiedsgerichten verweigerten und auf staatlichen Rechtsschutz bestünden, müssten sich nicht nur als Ungläubige offenbaren und damit ihre negative Religionsfreiheit aufgeben. Sie müssten vor allem auch soziale Ausgrenzungen, religiöse Sanktionen und unter Umständen noch mehr in Kauf nehmen.
Ein Rechtsstaat, der noch über einen Selbstachtungsanspruch verfügt, kann seine Bürger aber nicht in derartiger Weise allein lassen. Vielmehr besteht das Ethos des Rechtsstaates darin, jedem Bürger zu versprechen, sein Recht effektiv und frei von Angst vor den zuständigen Gerichten einzuklagen.
Dazu reicht es nicht aus, bei der staatlichen Zwangsvollstreckung der im Mediationsverfahren getroffenen Vereinbarung deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Zum Schutze der Muslime darf der Rechtsstaat vielmehr nur allein säkularen Maßstäben verpflichtete Mediationsverfahren bereitstellen. Würde eine religiöse Schiedsgerichtsbarkeit etabliert, könnte es ansonsten doch noch einen Verlierer geben: den Rechtsstaat.
Der Autor Prof. Dr. Otto Depenheuer ist Inhaber des Lehrstuhls für "Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie" sowie Direktor des "Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik" an der Universität zu Köln. Er ist Mitherausgeber des Deutsch-Türkischen Forums für Staatsrechtslehre.
Islamische Schiedsgerichte: . In: Legal Tribune Online, 09.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5537 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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