Interview zu Pager-Explosionen im Libanon: "Der Ein­satz war rechts­widrig"

Interview von Dr. Max Kolter

18.09.2024

Im Libanon explodierten Hunderte Pager, 2.800 Menschen sind verletzt. Mutmaßlich reagierte Israel damit militärisch auf den anhaltenden Beschuss durch die Hisbollah. Matthias Goldmann bewertet das Vorgehen aus völkerrechtlicher Sicht.

Seit dem 8. Oktober 2023 ist der Norden Israels unter permanentem Beschuss durch die im Südlibanon herrschende Hisbollah-Miliz. Am Dienstag explodierten verteilt über den Libanon Hunderte Pager, sie sollen der Hisbollah-Miliz als Kommunikationsmittel dienen. Nach Medien-Informationen wurden mindestens zwölf Menschen getötet, über 2.800 verletzt, viele davon schwer. Genaue Angaben dazu, ob zu den Opfern auch Mitglieder der Hisbollah-Führungsriege zählen, gibt es noch nicht. Der libanesische Gesundheitsminister Firass Abiad sagte, die meisten der in Notaufnahmen eingelieferten Menschen hätten Zivilkleidung getragen. Deshalb sei es schwierig zu beurteilen, ob sie der Hisbollah angehören.

Iran und Hisbollah machen Israel für die Explosionen verantwortlich. Spekulationen in sozialen Medien und Medienberichten zufolge sollen Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad die Funkempfänger vor ihrer Lieferung in den Libanon abgefangen und mit Sprengstoff präpariert haben. Ein entsprechendes Bekenntnis gibt es nicht, Israel hat sich bislang nicht öffentlich geäußert.

LTO: Herr Professor Goldmann, sollte der israelische Geheimdienst für die Explosionen der Pager verantwortlich sein, wie wäre das rechtlich zu bewerten?

Prof. Dr. Matthias Goldmann: Für die Bewertung ist wichtig, wie man die Auseinandersetzung zwischen der Organisation Hisbollah und Israel qualifiziert. Man kann mittlerweile davon ausgehen, dass zwischen Israel und der Hisbollah ein bewaffneter Konflikt herrscht. Die Frage ist nur, ob er als internationaler oder nicht-internationaler bewaffneter Konflikt einzustufen ist. Das hängt davon ab, wie man das Verhältnis zwischen Hisbollah und Libanon bewertet: Ist die Hisbollah ein verlängerter Arm des Libanon oder operiert sie als nichtstaatliche Organisation? Im ersten Fall läge ein internationaler Konflikt vor, also ein Konflikt zwischen zwei Staaten: Israel und Libanon. Im zweiten Fall handelte es sich um einen nicht-internationalen Konflikt.

Für diese Konfliktarten gelten unterschiedliche völkerrechtliche Regeln?

Ja. Im internationalen bewaffneten Konflikt gelten etwa die Haager Landkriegsordnung und die vier Genfer Konventionen, die Libanon und Israel beide ratifiziert haben. Sofern man es als nicht-internationalen Konflikt einordnet, gelten nur der gemeinsame Artikel 3 der Genfer Konventionen und das Gewohnheitsrecht. 

"Zwei Verstöße gegen das Humanitäre Vökerrecht"

Und wie würden Sie das bewerten: Was für eine Art von bewaffnetem Konflikt liegt vor? 

Ich würde Stand heute von einem internationalen Konflikt ausgehen. Die Hisbollah agiert durchaus als verlängerter Arm des Libanon. Sie ist dort an der Regierung beteiligt und übt über Teile von dessen Gebiet die Kontrolle aus.

Matthias Goldmann

Das Explodieren von Pagern wäre dann also als Handlung in diesem internationalen Konflikt zu sehen.

Genau.

Und erlaubt das dafür geltende humanitäre Völkerrecht ein solches Vorgehen wie hier: Pager so zu manipulieren, dass sie in einem unerwarteten Moment explodieren? 

Ich meine nein. Ich sehe hier zwei Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. 

Erstens: Man darf im bewaffneten Konflikt nur Kombattanten angreifen. Waren nur Kombattanten im Besitz von Pagern? Hier müsste man das gewohnheitsrechtlich anerkannte Prinzip der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten berücksichtigen. Im Einzelnen ist das kompliziert: Im internationalen bewaffneten Konflikt zeichnen Kombattanten sich dadurch aus, dass sie unmittelbar an den Kämpfen teilnehmen, also ggf. Waffen tragen. Nicht dazu gehört ziviles Personal. 

Sicher ist es schwer, das bei der Hisbollah zu unterscheiden, aber jedenfalls stellt sich die Frage, wie man hier sicherstellen will, dass nur Hisbollah-Kämpfer getroffen werden. Wurde der Pager z.B. an eine Person weitergegeben, die nicht Mitglied von Hisbollah ist, liegt eine Verletzung des Kriegsrechts vor. 

"Beweislast für den Kombattantenstatus trägt der Angreifer"

Was ist, wenn sich nicht aufklären lässt, ob eine getroffene Person der Miliz angehört oder nicht?

Die Beweislast für den Kombattantenstatus trägt der Angreifer.

Welchen zweiten Verstoß gegen Völkerrecht sehen Sie?

Die Hunderten simultanen Explosionen könnten unverhältnismäßig im Hinblick auf zivile Opfer sein. Derjenige, der die Explosion auslöst, kann gar nicht wissen, wie die Pager im Einzelfall explodieren bzw. wer davon jeweils in Mitleidenschaft gezogen wird. Das ist bei einer Fernzündung bzw. -steuerung eigentlich immer der Fall. Man kann nicht der Verhältnismäßigkeit Genüge tun, indem man "blindlings" darauf vertraut, dass der daraus erwachsende militärische Vorteil in angemessenem Verhältnis zu den Schäden steht. 

Damit ist der Einsatz für mich rechtswidrig. Es handelt sich um eine unterschiedslose Waffe, deren verhältnismäßiger Einsatz sich nicht gewährleisten lässt.

Und wenn man die Hisbollah doch vom Libanon getrennt ansieht und von einem nicht-internationalen Konflikt ausgeht?

Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit ändert sich nichts. Das Prinzip ist unabhängig von der Art des Konflikts zu beachten.

Die Frage, wen man in welcher Situation überhaupt angreifen darf, ist im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt noch einmal schwieriger zu beantworten als im internationalen Konflikt. Nach dem 2. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen dürfen Personen eigentlich nur angegriffen werden, während sie unmittelbar an Kampfhandlungen teilnehmen. 

Also wenn ein Terrorist gerade einkaufen geht, dürfte er nicht angegriffen werden?

Genau.

Im konkreten Fall wäre die Lage allerdings komplizierter, weil Israel das 2. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hat. Und was nach Gewohnheitsrecht gilt, ist sehr umstritten. Häufig werden höherrangige Personen in irregulären Streitkräften stets als legitime Ziele angesehen – die sind analog zu Armeeangehörigen quasi immer im Dienst. Ob das aber für einfache Kämpfer gilt, die die meiste Zeit als Zivilisten tätig sind, ist fraglich. Hier gibt es eine Tendenz, die Mitglieder organisierter bewaffneter Gruppen analog zu Armeeangehörigen wie Kombattanten zu behandeln. Danach dürften sie auch angegriffen werden, wenn sie gerade beim Einkaufen sind. Diese Einstufung soll verhindern, dass ganze Gruppen von Kämpfern weitgehend unangreifbar werden, weil sie im einen Moment in Kämpfe verwickelt sind, im nächsten Moment als Bauer ihr Feld bestellen. Aber auch dann stellt sich die Frage, ob die Pager nicht weitergegeben wurden. 

"Könnte Reparationspflicht auslösen"

Viele spekulieren, dass Israel den Anschlag verübt hat. Falls das der Wahrheit entspricht, ist zu erwarten, dass Israel sich zu den Explosionen bekennt?

Vermutlich nicht, schon wegen der damit verbundenen völkerrechtlichen Verantwortlichkeit. 

Welche rechtlichen Folgen hätte es, wenn Israel sich tatsächlich zu den Explosionen bekennt?

Das könnte eine Reparationspflicht auslösen. Israel müsste etwa Schadensersatz für die Folgen oder Genugtuung leisten. Jedoch könnte es Reparationspflichten gegenrechnen, die durch völkerrechtliche Verstöße der Hisbollah zustande kamen.

Vielen Dank.

Prof. Dr. Matthias Goldmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Recht an der EBS Universität Wiesbaden sowie Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Zitiervorschlag

Interview zu Pager-Explosionen im Libanon: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55446 (abgerufen am: 27.09.2024 )

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