Eigentlich sollen sie sich um Kinder kümmern. Die Berliner Tagesmütter sollen in Zukunft stattdessen "Gefährdungsanalysen" für die "Produktionskette" des Essens für die Kleinen erstellen. Ab dem 1. Januar sind sie Lebensmittelunternehmer und sollen europäische Hygienevorschriften einhalten. Daniel Schneider über Einweghandtücher und blinden Behördengehorsam.
Die ältere Dame ist 64 Jahre alt, wohnt in Berlin-Prenzlauer Berg und ist Rentnerin. "Prenzlberg" ist eine trendige Gegend mit vielen jungen Familien. Um sich ein wenig dazuzuverdienen, arbeitet sie mit kleinen Kindern, passt auf die Sprösslinge auf, während Mama und Papa auf der Arbeit sind.
Bei der Tagesmutter wird vorgelesen, gespielt und gekocht. Mittags, in einer kleinen Küche, stehen sie dann zu viert am Herd. Doch bald schon könnte es zumindest in Berlin mit dieser fast großmütterlichen Idylle vorbei sein. Denn nach dem Willen der Berliner Jugend- und Gesundheitsämter soll die kinderfreundliche Dame bald Unternehmerin sein, genauer gesagt Lebensmittelunternehmerin.
Die Senatsjugendverwaltung, die Senatsgesundheitsverwaltung sowie diverse Bezirksveterinärämter der Bundeshauptstadt verschicken seit mehreren Wochen einen "Leitfaden für die Lebensmittelhygiene in der Kindertagespflege". Da Tagesmütter Lebensmittel an Kinder abgeben, die nicht zur eigenen Familie gehören, seien sie Lebensmittelunternehmer, so die Behörden. Nach der so genannten Basis-Verordnung (Verordnung 178/2002) sind dies "alle Unternehmen […], die eine mit der Produktion, der Verarbeitung und dem Vertrieb von Lebensmitteln zusammenhängende Tätigkeit ausführen", wobei entsprechend der Lebensmittelunternehmer die "Person ist, die dafür verantwortlich ist, dass die Anforderungen des Lebensmittelrechts in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen erfüllt werden".
Das Ministerium spricht, die Landesämter folgen
Anlass des Leitfadens, so Regina Kneiding, Pressesprecherin der Berliner Senatsgesundheitsverwaltung, sei ein Schreiben des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz aus dem Jahre 2009 gewesen. Darin ordnete das Ministerium Tagesmütter als Lebensmittelunternehmer ein, die sich registrieren lassen und die Anforderungen des EU-Hygienerechts umsetzen müssen.
Während früher nationale Vorschriften die Einhaltung von Sicherheitskriterien, Grenzwerten und Hygienevorgaben regelten, ist das Lebensmittelrecht inzwischen weitestgehend europäisch harmonisiert. Das bedeutet: Brüssel macht die Vorgaben, meist über unmittelbar geltende Verordnungen.
Und auf eine solche scheinen sich die Berliner Behörden nun zu berufen. Doch neu sind diese Rechtsakte nicht. Die allgemeine Lebensmittelhygiene wurde im so genannten Hygiene-Paket in drei Verordnungen aus dem Jahre 2004 geregelt (VO 852/2004, 853/2004 und 854/2004). Die erste normiert allgemeine Hygieneanforderungen, die weiteren enthalten speziellere Vorgaben für Lebensmittel tierischen Ursprungs, also auch alles, was unsere Tagsmutter an Fleisch, Fisch, Wurst, Eiern verarbeitet und zubereitet.
Bald nur noch geflieste Küchen dank Hygienepaket?
Wahrscheinlich wird die Kinderbetreuerin ihre Küche, vielleicht sogar ihre gesamte Wohnung etwas umbauen müssen. Sauber ist es bei ihr eigentlich immer. Aber vielleicht wird sie ihren Mann bitten müssen, die Wände in der Küche zu fliesen. Schließlich müssen Wandflächen in Betriebsstätten der Lebensmittelverarbeitung leicht zu reinigen sein, und das ist bei Raufaser-Tapeten einfach nicht möglich.
Und die Berliner Ämter verlangen noch mehr: So soll die Tagesmutter nun ein Schädlingsbekämpfungssystem einführen. Ihre Katze wird die Rentnerin daher wohl verkaufen müssen. In Zukunft muss sie vermeiden, dass zwischen der Toilette und dem Raum, in dem die Kinder die Speisen zubereiten, "verunreinigende" Luftströme entstehen.
Sie soll in Küche und Bad Einmalhandtücher bereitstellen und einen Spender für Desinfektionsmittel. Möglicherweise muss sie sich auch einen Industriekühlschrank zulegen; die Temperaturanforderungen des Hygienerechts sind mit einem Haushaltskühlschrank kaum einzuhalten. Und das alles muss sie dokumentieren – jeder einzelne Vorgang muss schriftlich festgehalten werden.
Schließlich soll sie ein "HACCP-Verfahren" einführen. HACCP steht für "Hazard Analysis and Critical Control Points", was sich mit "Gefährdungsanalyse und kritische Kontrollpunkte" übersetzen lässt. Das System dient dazu, bedeutende Gesundheitsgefahren durch Lebensmittel zu identifizieren, zu bewerten und zu beherrschen.
Stets muss sich die "Lebensmittelunternehmerin" fragen, an welchen Stellen der "Produktionskette" die Speisen kontaminiert werden könnten. Die rüstige Dame wird eine Wareneingangskontrolle einrichten müssen: Nach dem Einkauf muss das Gemüse gewaschen werden. Und zwar nicht im Handwaschbecken, sondern in einem separaten. Ein Kontrollpunkt ist auch die Entnahme des Fleisches aus dem Kühlschrank. Die Kinder könnten Salmonellen übertragen, wenn sie sich nicht die Hände waschen, nachdem sie Putenbrust berührt haben.
Falsch verstandene Hygiene und unverhältnismäßige Forderungen
Es scheint, als hätten die Berliner Behörden den Willen des europäischen Gesetzgebers falsch gedeutet und folgten nun im blinden Gehorsam den Vorgaben des Verbraucherschutzministeriums. Klar ist, dass die Vorschriften den Schutz der Gesundheit der Verbraucher verbessern und für ein hohes Maß an Lebensmittelsicherheit sorgen sollen.
Doch die Europäische Kommission hat im Jahr 2009 in einem Leitfaden, der einzelne Bestimmungen der Hygienevorschriften näher erläutert, verdeutlicht, dass die Hygieneregeln nur für Unternehmen gelten sollen, bei denen eine "gewisse Kontinuität der Tätigkeiten und ein gewisser Organisationsgrad" vorhanden ist. Kein "Unternehmer" in diesem Sinne ist daher, wer nur gelegentlich und im kleinen Rahmen Lebensmittel behandelt und zubereitet.
Eine Tagesmutter sei daher wie eine Privatperson anzusehen, sagt Carsten Lietz, Pressesprecher der Europäischen Kommission in Berlin. "Die Essenszubereitung hat bei einer Tagesmutter auch nur eine untergeordnete Bedeutung", so Lietz. Dies gelte zumindest für Tagsmütter und –väter. Kindertagesstätten seien selbstverständlich anders zu beurteilen. Die EU gibt unserer Kinderbetreuerin also grünes Licht, damit sie sich – wie bisher – um die Kleinen und nicht um kritische Kontrollpunkte kümmern kann.
Das Schreiben des Ministerium ist allerdings eindeutig und die Berliner Behörden sehen zur Zeit keinen Grund, von ihrer bisherigen Rechtsauffassung abzuweichen. Schließlich seien die Anforderungen "von einem üblichen Haushalt ohne größeren Aufwand" erfüllbar. Man darf gespannt sein, ob übertriebene Hygienevorstellungen, behördlicher Gehorsam und ein falsches Verständnis von Unternehmertum tatsächlich dazu führen werden, dass am Prenzlauer Berg bald der Lebensmittelkontrolleur zweimal klingelt.
Der Autor ist Rechtsanwalt in Berlin und seit mehreren Jahren auf das Lebensmittelrecht spezialisiert.
Mehr auf LTO.de:
Bundestag: Neues Verbraucherinformationsgesetz verabschiedet
BGH zum neuen Unterhaltsrecht: Mami muss Geld verdienen
Dioxinskandal: Mit Qualitätsmanagement gegen verunreinigte Lebensmittel
Daniel Schneider, Hygienevorschriften für Tagesmütter: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5179 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag