Juristische Theorien gelten als wissenschaftstheoretisch anspruchslos, sind dafür zahlreich und potenziell examensrelevant. Über Interpretationsschemata im Durcheinander von Normen und Entscheidungen gehen sie kaum hinaus. Bezüglich anspruchsvoller Rechtstheorie und -philosophie droht nicht nur im Jurastudium Mangelversorgung. Eine Kurzdiagnose mit Therapievorschlag.
Dringen wir in fremde Welten vor, die kaum je ein Jurastudent gesehen hat: Vorlesungsbeginn an einer medizinischen Fakultät. In der Veranstaltung sollen grundlegende Erkenntnisse über das menschliche Gehirn vermittelt werden.
Der Dozent erklärt, dass eine "Blut-Hirn-Schranke" die grauen Zellen vor Toxinen im roten Saft schütze. In ein paar Jahren müssten sie, um im Examen glänzen zu können, auch eine Theorie herunterbeten können, der zufolge das menschliche Denken im Herz stattfinde, während das Gehirn lediglich zur Kühlung des Blutes diene – jedenfalls dürfe man, so wird den erstaunten Studenten erklärt, die Lehre nicht "verabsolutieren", wonach das Gehirn für das Denken und Fühlen zuständig sei.
Eine absurde Szene? In der Tat würde ein Medizinprofessor ausgelacht, würde er sich auf den antiken Philosophen Aristoteles stützen, in dessen Repertoire sich neben der eigenwilligen Funktionsbeschreibung des Gehirns als Kühlorgan – jahrhundertelang kritiklos nachgebetete – Aussagen finden wie jene, wonach der Mann mehr Zähne im Mund trägt als die Frau.
Aufmerksamkeit auf Esoterik verschwenden?
Wollte man über Ärzte lästern, könnte man den Gedanken äußern, manch ein fertigstudierter Mediziner würde sich über esoterische "Heilkünste" an der Universität freuen, lassen sich mit "Alternativmedizin" doch Umsätze generieren. Welches Interesse aber sollten Jurastudenten haben, ihre knapp bemessene Aufmerksamkeit auf hermetische Lehren zu verschwenden?
Zunächst muss man diese Frage mit einer Gegenfrage kontern: Esoterische, hermetische Lehren, hat man im Jurastudium nicht schon genug davon?
Uwe Wesel, Rechtshistoriker in Berlin hat einfach einmal nachgezählt (NJW 1994, 2594-2595). Im Artikel "Bereicherungsrecht" zählt er auf, welchen Umfang die Lehren zur Kondiktion im Lauf der Jahrhunderte annahm. Pomponius, der Römer, kam mit einem Satz aus. Canaris kam in seinem Lehrbuch seinerzeit auf 250 Seiten. Wesel lobt Josef Esser, 60 Seiten habe der 1960 gebraucht.
Für den § 812 benötigt ein Großkommentar 350 Randziffern, verteilt auf rund 120 dicht bedruckte Seiten. Weniger fragwürdig als die Menge ist der bescheidene Anspruch, der formuliert wird: Keine der klassischen Lehren dürfe "verabsolutiert" werden, es wird wohl gewichtet, aber keine Entscheidung getroffen, die den Stoff verknappen würde.
Larenz als Selbstmedikation?
Der Sozialtheoretiker Niklas Luhmann sah die Dinge gerne etwas abgeklärt und beschied, dass die Rechtspraxis juristische Theorien produziere, die nicht hielten "was der Theoriebegriff des Wissenschaftssystems verspricht."
Darauf mag sich mancher Akademiker wohl ausruhen und auf wissenschaftlich strenge Analyse verzichten. In der Folge wird sich vielleicht mancher Student selbst auf die Suche nach dem "Stein der Weisen" begeben – nach einem "Enhancement", das hilft, die Stofffülle zu bewältigen.
Als Selbstmedikation getestet: Karl Larenz‘ "Methodenlehre der Rechtswissenschaft" (in der letzten von Larenz noch selbst verantworteten 6. Auflage, 1991). Sie erwies sich als kontraindiziert, weil hermeneutisches Raunen Schläfrigkeit provoziert. Warnhinweise wie Bernd Rüthers‘ auf Larenz und Canaris gemünzte Frage "Anleitung zum fortgesetzten methodischen Blindflug?" kamen hinzu, ausführlich bejaht in der NJW (1996, 1249-1253).
Pädagogischer Eros eines "Alpmann-Schmidt"-Skripts
Eine Selbstmedikation mit Larenz hinterließ also wenig Wirkung. Immerhin wurde Larenz wohl von Richtern geliebt, wie Heinrich Weber-Grellet durch Auszählung höchstrichterlicher Argumente ermitteln konnte: "Auf den Schultern von Larenz: Demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung im Steuerrecht" (DStR 1991, 438-445). Ob es den pädagogischen Eros einer juristischen Methodenlehre erhöht, dass sie sich in Finanzgerichtsentscheidungen nachweisen lässt?
Glücklicherweise lässt sich der pädagogische Eros von Heinrich Weber-Grellet prüfen, so geschehen mit seinem Alpmann-Schmidt-Skript "Rechtsphilosophie und Rechtstheorie" (5. Auflage, 2010).
Bei diesem Skript handelt es sich um den Versuch, knapp 3.000 Jahre Rechtsphilosophie(-geschichte) auf rund 200 Seiten abzuhandeln. Auch die Rechtstheorie fehlt nicht. Leider werden in der gedrängten Darstellung des Stoffes Vorlieben und Schwerpunkte nicht recht deutlich. Ein bisschen komisch wirken, aber da mag die Stilform des "Skripts" studentische Lesererwartungen befriedigen müssen, Bewertungen à la "zu Recht vertritt Philosoph X die Ansicht Y". In einem philosophischen Proseminar würde bei so viel Evidenzgewissheit gelacht.
Den "Stein der Weisen" wird ein Skript vielleicht nicht liefern wollen, eine Wanderkarte, die Studenten auf mögliche Erkenntniswege führt, hingegen schon. Hier bleibt leider viel Unübersichtlichkeit, es wird nichts "verabsolutiert":
"Naturrecht", "Vernunftrecht", "Positivismus", "Relativismus", "Reine Rechtslehre", "Gerechtigkeitstheorien", "Prozedurale Theorien", so geht das Skript vor – zack, zack. Das führt nicht weiter, dient wohl der Sedierung von Prüfungsängsten. Wo sich die (anderen) Humanwissenschaften mit dem Phänomen "Recht" befassen – die ökonomische Analyse etwa, die "Gender"-Forschung vielleicht –, dorthin führt Weber-Grellet seine Leser nicht.
Breitbandmedikament "Theorie-Apotheke"
Ob der Jurist wirklich viel Theorie zum Leben braucht? Die Sperrigkeit der Literatur und die Anzahl akademischer Lehrveranstaltungen lassen Zweifel keimen. Um für – ein bisschen anspruchsvollere – Theorie zumindest etwas Geschmack zu wecken, sei auf ein Werk verwiesen, das zunächst in Hans-Magnus Enzensbergers großartiger "Anderer Bibliothek" erschien und jetzt als Taschenbuch vorliegt: "Theorie-Apotheke". Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen des Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch.
Hinter dem etwas barock-üppigen Titel steckt ein ausgesprochen witziges Werk, das die großen Theorien – von der "Analytischen Philosophie" bis zur "Zivilisationstheorie" – nicht nur kurz vorstellt, sondern bewertet, inwieweit sie dem interessierten Intellektuellen als eher süße oder eher bittere Medizin schmecken werden.
Theoriegenuss für Juristen bietet Hörisch zuhauf, beispielsweise mit dem Kapitel zur "Politischen Theologie", in dem Carl Schmitt auf witzige Weise gewürdigt wird – jener juristisch-philosophische Schriftsteller, der in seiner Wirkung auf die heutige Staatslehre entweder philologisch verwaltet oder hymnisch verehrt wird. Erfrischend auch, wie sich Hörisch des Feminismus annimmt, als einer insbesondere im Recht besonders wirkungsmächtigen Theorienströmung.
Von Unlustgefühlen vollständig geheilt zu werden, die bei einem überdosierten Genuss juristischer Lehren und "Theorien" aufkommen mögen, kann die Lektüre von Jochen Hörischs "Theorie-Apotheke" zwar nicht versprechen.
Versprochen werden kann aber, Lust an Theorie zu bekommen. Was mit einem vorwitzigen Blick auf juristische Drechseleiarbeit belohnt wird.
Weiterlesen?
Jochen Hörisch: "Theorie-Apotheke". Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen, Suhrkamp, 2. Auflage 2010, 386 Seiten, 12 Euro
Heinrich Weber-Grellet: "Rechtsphilosophie und Rechtstheorie", Alpmann-Schmidt, 5. Auflage 2010, 200 Seiten, 19,90 Euro
Norbert Hoerster: "Was kann die Rechtswissenschaft?", in: Rechtstheorie Bd. 41, 2010, Seiten 13-23
Rainer Maria Kiesow: "Rechtswissenschaft – was ist das?", in: Juristenzeitung Nr. 12, 2010, Seiten 585-591
Bernd Rüthers: "Anleitung zum fortgesetzten methodischen Blindflug?", in: Neue Juristische Wochenschrift Nr. 19, 1996, Seiten 1249-1253
Der Autor Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Humanisierung des Jurastudiums: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1834 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag