Auch die Zunft der Strafverteidiger trauert um Hans-Christian Ströbele. Der ehemalige Grünenpolitiker und frühere RAF-Anwalt starb am Montag. Sein ehemaliger Weggefährte und Schüler "Jony" Eisenberg erinnert sich an den Juristen Ströbele.
Ich kannte Hans-Christian Ströbele näher seit 1982, aus dem Verfahren gegen die Journalisten und früheren Mitherausgeber der Zeitschrift 'radikal' Michael Klöckner und Benedikt "Benny" Härlin vor dem 5. Strafsenat des Berliner Kammergerichts (KG).
In dem Verfahren wegen Werbung für eine terroristische Vereinigung sowie Aufforderung zu und Billigung von Straftaten verteidigte Ströbele neben Matthias Zieger (auch einem großen Verteidiger) und dem leider sehr früh verstorbenen Sebastian Cobler. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, für die Herausgabe der Zeitung "Radikal“, in der gelegentlich Kommandoerklärungen der Revolutionären Zellen verbreitet wurden verantwortlich gewesen zu sein. Mit Terrorismus hatte die Zeitung nicht das Geringste zu tun, sie vertrat eher links-reformerische Strömungen.
Die Angeklagten – harmlose Studenten – wurden in Untersuchungshaft genommen, Verteidigerbesuche fanden hinter Trennscheibe statt. Das Verfahren im Jahre 1983/84 führte ein Strafsenat des Kammergerichts. Anklage und Verhandlungsführung entsprachen den damals üblichen politischen Verdächtigungen ohne einen Versuch, eine reale Tatbeteiligung nachweisen zu müssen. Mussten die Strafverfolger auch nicht, weil der § 129 a StGB konkrete Tathandlungen entbehrlich machte: Es reichte aus, wenn jemand sich in die Nähe der vermeintlichen Terroristen begab oder eine aus Sicht der Strafverfolgung "fördernde" Handlung unternahm. Dazu genügte es, Erklärungen der "Terroristen" Dritten zugänglich zu machen (heute kennen wir sowas aus der Türkei oder der Russischen Republik).
Zeugen der Wanderung gesucht
Ströbele war von den drei genannten Kollegen der erfahrenste, aber auch der Verteidiger mit den meisten Vergeblichkeitserfahrungen im Zusammenhang mit solchen Vorwürfen. Eine Anknüpfungstatsache für den Schuldvorwurf sollte sein, dass Benny Härlin an einem Ostertag im Jahre 1982 von Berliner LKA-Beamten beim Abliefern der Zeitungen beim Postzeitungsamt "observiert" worden sein soll. Die Observanten schworen Stein und Bein, dass sie ihn erkannt hatten. Mir fiel dazu ein, dass ich an diesem Tage mit Benny, einem meiner Brüder und dessen Freund im Weserbergland wandern war, wir hatten also ein klassisches Alibi.
Ströbele erkannte die Bedeutung dieser Verteidigungsmöglichkeit: Es war zwar nicht üblich, in solchen Verfahren gegen die Verdachtsanzeichen zu verteidigen (weil es sich häufig um schwer be- und damit auch gegenbeweisbare Unterstellungen handelte). Er schickte mich aber los, mögliche Zeugen der Wanderung zu suchen (Übernachtungsnachweise in Herbergen).
Als wir die präsentierten und unsere Zeugenaussagen machten, stand für den Strafsenat und die Staatsanwaltschaft fest, dass dies nur gefälschte Beweise und Falschaussagen sein können. Erst als seitens der Verteidigung eine Gastwirtstochter präsentiert werden konnte, die sich an meinen Bruder erinnerte, der ihr Germanistikprofessor war, und den sie am Karfreitag fern von Berlin in der Gastwirtschaft ihres Vaters angetroffen hatte, gab das Gericht seine These auf - aber auch das Interesse am Tatnachweis des Verbringens der Zeitung in das Postzeitungsamt.
Michael Klöckner und Benny Härlin wurden vom KG zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Richter und Staatsanwälte feierten anschließend ihre Leistung mit einem Schnäpschen im Beratungszimmer. Allerdings stürzte der Vorsitzende danach die enge Wendeltreppe im Kriminalgericht so unglücklich herunter, dass er sich nachhaltig am Schädel verletzte (und fortan für derartige Verfahren als ungeeignet erschien). Ströbele führte anschließend die Revision. Benny Härlin wurde für die Grünen in die erste Legislatur des Europaparlaments gewählt, gewann Immunität, die das Europaparlament sich weigerte aufzuheben. Als er nach fünf Jahren die Immunität verlor, hob schließlich der BGH das Urteil des KG auf. Das Verfahren – die Zeiten hatten sich geändert – wurde schließlich eingestellt.
Strafverteidiger ohne Allüren
Ströbele war ein unbestechlicher, unendlich fleißiger, mutiger und zugleich schlauer Verteidiger. Er hatte – was es bei Strafverteidigern praktisch nicht gibt – keine Allüren. Er gab nicht an. Er schnitt nicht auf. Er las die Akten und hatte Ideen. Er ließ sich nicht provozieren, nicht vom Gegner, nicht von Staatsanwälten oder Richtern, ließ sich nicht einschüchtern, ließ sich nicht beschränken. Er trug keinen Schlips, keine Nadelstreifen.
Die Robe trug er ungern, in den 70igern versuchte er sich der Pflicht zu entledigen und wurde durch „Standesrecht“ dazu gezwungen. Er legte keinen Wert darauf, sich mit beamteten Robenträgern gemein zu machen. Er war für seine Mandanten zugänglich, ohne mit ihnen zu fraternisieren, blieb beim distanzierenden "Sie". Dabei ließ er sie nie im Unklaren über ihre Lage. Er war beharrlich. Seine Revisionen führte er buchstäblich über Wochen mit intensiver Durchsicht von Akten und Protokollen, in endlosen Nachtstunden. Sie waren oftmals viele Hundert Seiten stark. Nahezu unverständlich war seine Bescheidenheit und seine zurückhaltende Honorarpolitik.
Ströbele hat sich vor seiner politischen Karriere als sogenannter "RAF-Anwalt" einen Namen gemacht. Er war davon überzeugt, dass das "Infosystem", also die Gewährleistung einer Kommunikation zwischen den Gefangenen der RAF in den 70iger Jahren keine Straftat war, sondern notwendiges Verteidigerhandeln. Damals gab es noch nicht das Mehrfachverteidigungsverbot. Ein Strafverteidiger durfte mehrere Angeklagte in einem Verfahren vertreten, solange keine widerstreitenden Interessen bestanden. Weil das so war, durfte und musste er auch die Kommunikation zwischen den Mandanten gewährleisten (später nannte man das Sockelverteidigung).
Massive Verfolgungserfahrung
Dafür wurde Ströbele jahrelang mit Strafverfahren überzogen, in Untersuchungshaft gesperrt, mit Berufsverbot bedroht, musste mehrinstanzliche und kostspielige vieltägige Hauptverhandlungsserien durchstehen und wurde am Ende doch verurteilt, immerhin nach langem Kampf "nur" zu einer Bewährungsstrafe. Die Berliner Rechtsanwaltskammer entzog ihm die Zulassung trotz entsprechender Anträge nie. Sie zollte ihm damit früh den Respekt, der er verdiente.
Diese massive Verfolgungserfahrung hat ihn so wenig beirrt wie die sich anschließenden, nahezu bis heute währenden Verleumdungen wegen vermeintlicher Stasi-Kontakte. Tatsächlich wurde er in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren von dem Ost-Berliner, in West-Berlin zugelassenen Anwalt und Schriftsteller Friedrich-Karl Kaul (neben Matthias Zieger) verteidigt. Dass und was sein Anwalt Kaul Mitarbeitern der Stasi berichtete, wusste Ströbele jedoch nicht, konnte und musste es auch nicht wissen. Die Springer-Medien hielt dies gleichwohl nicht davon ab, ihn - wider der Aktenlage - in Stasi-Nähe zu rücken.
Den modus operandi, den ich bei ihm als Anwalt und Strafverteidiger und in der engen und beschränkten Gerichtsöffentlichkeit beobachtete (und versuchte zu erlernen), konnte eine breite Öffentlichkeit später im Bundestag beobachten. Berühmt ist die Zwischenfrage von Ströbele an den damaligen CDU-Parteichef Wolfgang Schäuble im Jahre 2000, als der vor dem Plenum des Deutschen Bundestages über einen Besuch bei einem "Spendenessen"“ des Waffenhändlers Karl Heinz Schreiber berichtete: „Mit oder ohne Koffer?“. Schäubles Antwort "ohne" wurde später für eine Lüge gehalten, nachdem sich herausstellte, dass Schreiber der CDU zu Händen Schäubles 100.000 D-Mark gespendet hatte.
Berüchtigte Fragetechnik
Ströbele saß in fünf Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestags, in denen es um die Aufklärung politischer Verfehlungen bei der Spionageabwehr (1985 ff.), bei der Parteispendenaffäre (1999 ff.), bei der BND-Beteiligung am Irakkrieg und Verschleppungen durch die CIA (2006 ff.), beim NSU-Terror (2012 ff) und beim NSA-Abhörskandal (2014 ff.) ging. In diesen hatten die Zeugen regelmäßig Angst. Angst vor der Befragung durch Ströbele. Der konnte fragen, im Gegensatz zu den meisten Abgeordneten. Er bramarbasierte nicht. Er räsonierte nicht. Er begann stets freundlich, verbindlich. Die Zeugen wussten zunächst nicht, worauf er hinaus wollte. Entsprechende Gegenfragen wies er zurück und wiederholte die Frage, bis entweder freche junge Ausschussvorsitzende durch Störmanöver sein Fragerecht behinderten oder die Zeugen klein beigaben.
Auch in dieser Umgebung ließ er Arroganzen und Demütigungen ungerührt an sich abperlen und bestand darauf, seine Fragen ungestört zu stellen. Und er vergaß nicht. Wann immer er auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier traf, erinnerte er sich an dessen Verhalten gegenüber dem nach Guantanamo verschleppten Bremer Murat Kurnaz. Steinmeier hätte als Kanzleramtschef Kurnaz bereits 2002 aus der Haft befreien können, lehnt das aber ab, so dass Kurnaz bis 2006 im Lager schmachten musste.
Eine grundlegende Erfahrung Ströbeles in den Untersuchungsausschüssen war die Erfahrung, dass sich Zeugen dort der Aussage entzogen, indem sie sich auf umfassende Auskunftsverweigerungsrechte nach § 55 Strafprozessordnung beriefen. Das nervte und behinderte die Aufklärung. Ströbele hatte dazu verschiedene Ideen: Zum Beispiel regte er an, die Zeugen nicht mehr wegen Taten und Vorgängen zu bestrafen, zu denen sie sich vor einem Untersuchungsausschuss geäußert hatten. Bei seinen früheren Verteidigerkollegen kamen derartige Vorschläge nicht besonders gut an.
Das Ende einer Ära
Ein Kollege sagte mir zu Ströbeles Tod, dass mit ihm eine Ära zu Ende geht. Das ist wohl so. Er war am Ende der letzte und heute wohl prominenteste Angehörige der Generation von Verteidigern, die aus der 68er Studentenbewegung hervorgegangen sind und die Verteidigung aus dem Dunkelfeld der Kooperation zwischen Anwälten, Staatsanwälten und Richtern gegen die Angeklagten, die es seit der Zeit des Nationalsozialismus gab, befreit haben.
Er gehörte noch nicht zu den Verteidigern, die in frühem Verfahrensstadium bereits die Kooperation mit dem Gericht suchten, wenn er die theoretische Möglichkeit sah, deutlich unter den "Angeboten" zu bleiben.
Mir hat er zu Beginn meiner Laufbahn einmal gesagt: "Wir brauchen eigentlich mehr gute Richter, als dass alle Rechtsanwälte werden wollen."
Autor Johannes "Jony" Eisenberg (67) ist Strafverteidiger und Medienrechtler in Berlin. In der Kanzlei von Hans Christian Ströbele hat er in den frühen 80er Jahren eine Referendarstation absolviert. Von 1984 bis 1986 war Sozius von Ströbele und seither mit ihm durch diverse Mandatierungen verbunden. Eisenberg gehört wie Ströbele zu den Gründern der Genossenschaft der Berliner tageszeitung (taz).
Zum Tod von Hans-Christian Ströbele (83): . In: Legal Tribune Online, 01.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49497 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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