LTO: Erst vergangenes Jahr urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Sabeh El Leil v. Frankreich, dass es einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) darstellen kann, wenn ein Gericht eine arbeitsrechtliche Klage gegen den Staat, in dessen Botschaft der Kläger arbeitete, abweist und sich dabei auf die Staatenimmunität stützt. Hätten die Arbeitsgerichte die von Ihnen erhobene Klage vor diesem Hintergrund gar nicht als unzulässig abweisen dürfen?
Bertelsmann: Der Fall aus Frankreich war anders gelagert. In Deutschland war es auch vor dieser Entscheidung schon möglich, dass Arbeitnehmer diplomatische Vertretungen als Arbeitgeber verklagen konnten, wenn sie nicht mit hoheitlichen Aufgaben in der Botschaft beschäftigt waren, wie zum Beispiel der Arbeit in der Passabteilung, sondern mit nicht-hoheitlichen, also als Gärtner, Schreibkraft oder Fahrer angestellt waren. Da hat die Entscheidung des EGMR für Deutschland nichts Neues gebracht.
Seltsam ist dennoch: Die Immunität der einzelnen Diplomaten geht weiter als die der Botschaft selbst. Die Diplomaten genießen auch im Bereich des nicht-hoheitlichen Handelns Immunität, wie beim Streit um Arbeitsverträge mit ihrem privaten Hauspersonal. Diese extrem weitreichende Immunität war die rechtliche Hürde unseres Falles.
LTO: In Frankreich hat das oberste Verwaltungsgericht, der Conseil d’État, Anfang des Jahres einer ehemaligen Hausangestellten eines Unesco-Diplomaten aus dem Oman Schadensersatz für nicht gezahlten Lohn zugesprochen. Allerdings sollte nicht der Diplomat, sondern der französische Staat zahlen. Halten Sie das für einen sinnvollen Kompromiss, der auch in Deutschland möglich wäre?
Kühling: Das könnte eine Lösung sein, die sinnvoll wäre. Wenn schon Deutschland aus übergeordneten Gründen meint, Diplomaten so weitgehend von jeglicher Haftung zu befreien, muss der Staat jedenfalls eine Art "Auffanghaftung" übernehmen. Nur so kann die faktisch gegebene Undurchsetzbarkeit berechtigter Ansprüche von Geschädigten kompensiert werden.
"Die rechtliche Situation von Hausangestellten ist unhaltbar"
LTO: Steht der nächste Prozess, in dem grundsätzlich über die Immunität entschieden werden könnte, bereits bevor? Oder hat es sich um einen Einzelfall gehandelt?
Bertelsmann: Es handelt sich leider nicht um einen Einzelfall. Die meisten Diplomaten behandeln ihre Hausangestellten zwar ordnungsgemäß. Das Gegenteil ist aber leider immer noch verbreitet. Auch unterlässt es das Auswärtige Amt, die von ihm selbst gesetzten Mindeststandards zu überprüfen. So gibt es eigentlich Vorgaben zu einem Mindestlohn und der Überweisung des Entgelts auf ein Konto der Hausangestellten. Es wird weitere Gerichtsverfahren geben. Bei den Beratungsstellen, die sich besonders um Menschenrechtsverletzungen von Frauen aus dem Ausland kümmern, sind diverse solcher Fälle bekannt.
LTO: Würden Sie in einem neuen, ähnlichen Fall die Vertretung wieder übernehmen?
Kühling: Ja. Die rechtliche Situation ist unhaltbar, es wird dieser Gruppe von Beschäftigten jegliche rechtliche Gegenwehr unmöglich gemacht. Dies kann für einen Rechtsstaat wie Deutschland nicht hingenommen werden.
LTO: Rechnen Sie damit, dass irgendwann das BVerfG oder wieder der EGMR über die Reichweite der Immunität wird entscheiden müssen?
Bertelsmann: Das BVerfG wird irgendwann entscheiden müssen. Für den Fall, dass auch die Verfassungsrichter die betroffenen Hausangestellten rechtlos stellen, wird es der EGMR in Straßburg tun müssen.
* Name geändert.
Dr. Klaus Bertelsmann und Dr. Jürgen Kühling, Richter des BVerfG a.D., sind als Rechtsanwälte in der Hamburger Kanzlei Bertelsmann und Gäbert tätig. Sie haben gemeinsam die Klage gegen den saudi-arabischen Diplomaten vor den Arbeitsgerichten vertreten.
Das Interview führte Dr. Claudia Kornmeier.
Grundsatzurteil zur Immunität von Diplomaten verhindert: . In: Legal Tribune Online, 24.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6924 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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