Grundsatzurteil zum Pflichtteilsergänzungsanspruch: In der Regel Rückkaufswert der Lebensversicherung im Todeszeitpunkt maßgeblich

von Alexander Knauss

28.04.2010

Enterbte Kinder können künftig stärker von Lebensversicherungen profitieren. Bisher konnte ein Pflichtteilsberechtigter seinen Anteil nicht aus der ausgezahlten Versicherungssumme fordern, sondern nur aus den vom Erblasser gezahlten Versicherungsprämien. Der Bundesgerichtshof hat heute entschieden, dass regelmäßig der Rückkaufswert der Lebensversicherung maßgeblich ist.

Das Urteil hat erhebliche wirtschaftliche und praktische Bedeutung. Die in Deutschland in Lebensversicherungsverträge investierten Beträge liegen im Milliardenbereich und die widerrufliche Einräumung von Bezugsrechten ist ein weit verbreitetes Mittel bei der Nachlassgestaltung. Über die nun entschiedene Frage, wonach sich der Anspruch eines Pflichtteilsberechtigten auf Ergänzung seines Pflichtteils richtet, wurde daher regelmäßig gestritten.

Sie stellt sich für Pflichtteilsberechtigte (zum Beispiel enterbte Kinder oder Ehegatten), wenn der verstorbene Erblasser die Leistung aus seiner Lebensversicherung einem Dritten geschenkt hat.

So machten auch in den heute vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen (Urt. v. 28.04.2010, Az. IV ZR 73/08 und IV ZR 230/08) die Kläger jeweils als enterbte Söhne des Erblassers gegen die Erben Pflichtteilsteilsergänzungsansprüche geltend, die sie auf Grundlage der ausbezahlten Versicherungsleistungen berechnen wollten.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf berechnete den Pflichtteilsergänzungsanspruch auf Grundlage der vollen Versicherungssumme, während das Kammergericht von der - geringeren - Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien als Berechnungsgrundlage ausging.

Seit einem Urteil des Reichsgerichts aus den 1930er Jahren (RGZ 128,187) war höchstrichterliche Rechtsprechung, dass lediglich die Summe der eingezahlten Prämien Gegenstand der Pflichtteilsergänzung war. Dies wurde in letzter Zeit in Rechtsprechung und Literatur infrage gestellt, nachdem der für das Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat zu einer ähnlichen Fragestellung im Insolvenzrecht auf die gesamte Versicherungssumme abstellen wollte (BGH, Urteil v. 23. 10. 2003 - IX ZR 252/01). Dies führt natürlich zu höheren Werten.

Ein neuer Weg: Welchen Wert hätte der Erblasser zuletzt umsetzen können?

Der für das Erbrecht zuständige IV. Zivilsenat des BGH hat in den heutigen Entscheidungen seine bisherige Linie aufgegeben und - überraschend - einen dritten Weg eingeschlagen: Danach kommt es allein auf den Wert an, den der Erblasser aus den Rechten seiner Lebensversicherung in der letzten - juristischen - Sekunde seines Lebens nach objektiven Kriterien für sein Vermögen hätte umsetzen können.

In aller Regel ist dabei auf den Rückkaufswert abzustellen. Je nach Lage des Einzelfalls kann gegebenenfalls auch ein - objektiv belegter - höherer Veräußerungswert heranzuziehen sein, insbesondere wenn der Erblasser die Ansprüche aus der Lebensversicherung zu einem höheren Preis an einen gewerblichen Ankäufer hätte verkaufen können. Dabei ist der objektive Marktwert aufgrund abstrakter und genereller Maßstäbe unter Zugrundelegung der konkreten Vertragsdaten des betreffenden Versicherungsvertrags festzustellen.

Die schwindende persönliche Lebenserwartung des Erblasseres aufgrund subjektiver, individueller Faktoren - wie insbesondere ein fortschreitender Kräfteverfall oder Krankheitsverlauf - darf bei der Wertermittlung allerdings ebenso wenig in die Bewertung einfließen wie das erst nachträglich erworbene Wissen, dass der Erblasser zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich verstorben ist.

Interessengerecht: In der Regel Rückkaufswert maßgeblich

In der Praxis wird es wohl darauf hinauslaufen, den normalerweise leicht zu ermittelnden Rückkaufswert zugrunde zu legen.

Mit seiner Entscheidung schafft der BGH nicht nur Rechtssicherheit. Er beschreitet auch einen Weg, der den Interessen aller Beteiligten dient: Liegt der Abschluss der Lebensversicherung noch nicht lange zurück, orientiert der Rückkaufswert sich regelmäßig an den eingezahlten Prämien (in der Anfangsphase sogar darunter). Erst mit zunehmender Laufzeit nähert sich der Rückkaufswert der Ablaufleistung an.

Der Abschluss einer Lebensversicherung verbunden mit der Einräumung eines Bezugsrechts kann daher auch künftig eine Gestaltungsmöglichkeit sein, den Ergänzungsanspruch der Pflichtteilsberechtigten zu mindern.

Der Autor Alexander Knauss ist Fachanwalt für Erbrecht und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht in Bonn. Er ist Verfasser zahlreicher Fachpublikationen u.a. im Erbrecht

Zitiervorschlag

Alexander Knauss, Grundsatzurteil zum Pflichtteilsergänzungsanspruch: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/446 (abgerufen am: 19.11.2024 )

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