Das GG ist vieles, aber nicht statisch. Schon zum 70. Geburtstag hatte die LTO-Redaktion die einzelnen Grundrechte mit Beiträgen gewürdigt. Wie sehr die einzelnen Artikel sich inhaltlich mit der Gesellschaft bewegen, zeigt der Blick zurück.
Spoiler: Marco Buschmann musste sich vor fünf Jahren die Frage gefallen lassen, ob seine FDP eine Verbotspartei sei. Der heutige Bundesjustizminister war damals noch parlamentarischer Geschäftsführer und die verfassungsrechtlich gegebene Möglichkeit, Privateigentum zugunsten der Menschen zu vergesellschaften, war ihm und seinen Mannen damals schon ein Dorn im Auge.
Dies war einer der Beiträge der LTO-Redaktion zu "70 Jahre Grundgesetz" (GG). Seinerzeit hatte die Redaktion Beiträge zu den Grundrechten verfasst oder verfassen lassen. Viele der damals ausgewählten Gastautor:innen, Zitatgeber:innen oder Interviewpartner:innen sind noch immer wesentliche Meinungsgeber in der juristischen Debatte: etwa Professor Dr. Klaus F. Gärditz, Udo di Fabio oder Priv.-Doz. Dr. Mathias Hong. Einige der Beiträge sind heute genauso aktuell wie vor fünf Jahren. Doch zwischen den beiden Jahrestagen liegen unter anderem eine Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine. Leben, Freiheit, Gesundheit, Versammlungsfreiheit – was wiegt wie schwer? Welche Rechte sind wie einschränkbar? Jahrzehnte haben sich diese Fragen nicht so sehr gestellt, wie ab dem Frühjahr 2020.
Nichts blieb seitdem, wie es war und doch bleibt vieles gleich: Der Blick auf diese Texte mit dem Blick von der aktuellen Perspektive ist spektakulär – angefangen damit, dass der Begriff "Rasse" noch immer im GG steht und Kinderrechte entgegen der Ankündigung noch immer nicht im GG verankert sind.
Klimaschutz und Resilienz des BVerfG
Einige Beiträge, wie der zum Petitionsrecht aus Art. 17 GG oder zum Religionsrecht aus Art. 4 GG könnten heute fast unverändert erneut veröffentlicht werden – doch das sind die wenigsten. Denn die Themen verändern sich erheblich.
So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) inzwischen die NPD aus der Parteienfinanzierung ausgeschlossen und die Klimaschutzverpflichtung aus Art. 20a GG mit Hinweis auf den Schutz "intertemporaler Freiheitsrechte" klargestellt. Obwohl sich Wissenschaftler und auch große Unternehmen schon seit Jahrzehnten mit dem Thema befassen, hat letzteres – so muss man es ganz selbstkritisch sagen – in der LTO-Redaktion zum 70. Geburtstage des GG noch keine Rolle gespielt. Das gilt auch für den Schutz des BVerfG gegen Feinde der Demokratie: Zwar hatte Verfassungsblog-Chef Maximilian Steinbeis schon vor vielen Jahren eine Debatte um die Resilienz des BVerfG angestoßen. Ihm war es Warnung genug, welche Folgen sich in Ungarn und später in Polen mit den entsprechenden Regierungen für die Rechtsstaatlichkeit und das Justizwesen in den Ländern anbahnte. Die Mehrheit der Menschen hat sich des Themas über Jahre nicht hinreichend angenommen. Um die Frage der "Verwirkung von Grundrechten" ging es hingegen auch schon in den LTO-Beiträgen zum 70. Geburtstag des GG – Artikel 18 GG war allerdings in der öffentlichen Debatte zu der Zeit weniger präsent, als das inzwischen der Fall ist.
Liberalisierung des Familienbildes
Auch die Sicht auf Familien ist im Wandel: So hat der biologische Vater eines Kindes das Recht, auch als rechtlicher Vater für seinen Sohn akzeptiert zu werden, die anderslautende Regelung aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch erklärte das BVerfG für verfassungswidrig. Insgesamt ist eine Liberalisierung des Familienbildes festzustellen – dies allerdings nicht erst in den vergangenen fünf Jahren. Jünger ist die Reform des Namensrechts – auch hier passen sich die Rechte der Menschen in Deutschland der Veränderung in der Gesellschaft an. Das gilt auch für das in diesem Jahr verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz. Dies könnte man als Öffnung der Anwendungsbereiche bezeichnen. Und das könnte als nächstes das Thema Wehrpflicht betreffen. Hoffen wir, dass wir dieses Thema zum 80. des GG nur als kurze Episode in der Geschichte des GG notieren.
Doch lesen Sie selbst, wo der Brandenburger Bombodroms eine Rolle spielte, welche Geschichte hinter dem Grundrecht auf Asyl steht und wann Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft verlieren könnten. Die Texte zu 70 Jahre GG finden Sie hier:
1/19: Die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG: Eine Frage des Geldes
2/19: Das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG: "Das Leben ist nicht der Höchstwert der Verfassung"
3/19: Gleichstellung von Frauen Art. 3 GG: Werden Frauen im Steuerrecht benachteiligt?
4/19: Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG: "Ob Kreuz oder Kopftuch: Keiner darf beleidigt sein"
5/19: Die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG Darf man das noch sagen?
6/19: Ehe und Familie aus Art 6 GG: Die gleichgeschlechtliche Ehe - Der Wortlaut ist eindeutig
7/19: Schule aus Art 7 GG: Eine neue Gesellschaft im alten Staat
8/19: Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG Ein unbequemes Grundrecht
9/19: Die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 GG Der lange Weg in die Verhältnismäßigkeit
10/19: Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG Netzgemeinde statt Dampfbad
11/19: Freizügigkeit aus Art. 11 GG: Elfes' Erbe
12/19: Art. 12: Berufsfreiheit im Jahr 2019 "Ohne Artikel 12 gäbe es noch viel mehr Wirtschaftsregulierung"
12a/19: Die Wehrpflicht aus Art. 12a GG: Wenn schon Dienst, dann für alle?
13/19: Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG Der ganz, ganz große Lauschangriff
14/15/19: Eigentum und Sozialisierung, Art. 14 u. Art. 15 GG "Artikel 15 ist ein Verfassungsfossil"
16/19: Schutz der Staatsangehörigkeit, Art. 16 GG: IS-Kämpfern die Staatsangehörigkeit entziehen?
16a/19: Das Asylrecht aus Art. 16a GG; "Ein Symbol der Humanität"
17/19: Das Petitionsrecht aus Art. 17 GG: "Eine verfassungsrechtliche Ur-Institution"
18/19: Die Grundrechtsverwirkung aus Art. 18 GG: Wie missbraucht man seine Grundrechte?
75 Jahre Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 22.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54591 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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