Zu früheren GG-Jubiläen waren die Wiedervereinigung oder die EU-Integration bestimmende Themen. Das GG hat sich bewährt. Zum 75. Jubiläum lösen Krieg, gesellschaftliche Polarisierung und wirtschaftliche Transformation neue Herausforderungen aus.
Das 75. Jubiläumsjahr unserer Verfassung lädt ein, über ihre Bewährung gleich in doppelter Bedeutung nachzudenken: Das Grundgesetz hat sich in diesen Jahren bewährt, aber es muss sich auch – gerade in den aktuellen Zeiten – immer wieder neu bewähren. Zum einen hat sich unsere Verfassung in herausfordernden historischen Momenten und Krisenzeiten als ein Grundpfeiler für die Stabilität und den Erfolg der Bundesrepublik Deutschland erwiesen. Zum anderen müssen diese Verfassung, die durch sie geordnete Gesellschaft und ihr Staat sich gerade in der aktuellen zeitgeschichtlichen Situation nach innen wie nach außen bewähren.
Bei früheren Grundgesetz-Jubiläen waren die bestimmenden Themen: der Kalte Krieg, die Notstandsverfassung, gesellschaftliche Umbrüche nach 1968, die europäische Integration, der beständig reformbedürftige Föderalismus, die Grundrechtsdogmatik, die deutsche Wiedervereinigung oder der Vormachtwettbewerb zwischen dem obersten deutschen und europäischen Gericht. Im Jahr 2024 geht es bereits nahezu um einen Überlebenskampf des demokratischen Verfassungssystems gegen autoritären Populismus und geopolitischen Imperialismus. Das Regierungsmodell des demokratischen Rechtsstaats steckt - weltweit - in einer Krise. Ein Jubiläum also in "Zeiten der Bewährung".
Gefeiert werden müssen vor allem die Menschen des Verfassungslebens
Das Grundgesetz wird staatspolitisch und verfassungshistorisch als Lehre aus der gescheiterten Weimarer Republik, als Abwendung vom Nationalsozialismus und als Durchsetzung des Primats des Rechts eingeordnet: das Grundgesetz als Garant des Rechts, herrschaftslimitierend wie freiheitsgarantierend. Die deutsche Verfassung gilt damit als eine Quelle der Inspiration für andere Länder, die nach demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen streben und ist gar zu einem Exportschlager der Bundesrepublik Deutschland geworden.
Aber das Grundgesetz ist sicher nicht nur eine rechtliche Institution, sondern weit mehr auch eine staatspolitische Institution und Grundlage einer Werteordnung. Vor allem aber ist das Grundgesetz in der Geschichte der demokratischen Entwicklung Deutschlands Meilenstein und Zielpunkt zugleich und ein Beispiel für gelungene Verfassungsarbeit, für gelebte Verfassung geworden. Zu feiern gilt es daher in erster Linie alle Menschen, die unsere Verfassung leben, und das Land, in dem sie erfolgreich wirkt. Zudem zeitigt das 75. Jubiläum eine Erfolgsgeschichte der Verfassung, des damit begründeten Staates und seiner Staatsorgane.
Wie das GG sich in 75 Jahren bereits bewähren musste
Im Jahr 2024 gibt es aber ein weiteres Jubiläum zu begehen: das des 35. Jahrestages der Wiedervereinigung und der Verfassungseinheit in freier Selbstbestimmung. Dies wurde möglich durch eine friedliche Revolution vieler Bürger in der DDR und passt ob der demokratischen Kraft und dem Streben nach Freiheit, die darin zum Ausdruck kommen, gerade zum Jubiläum des Grundgesetzes. Wir alle können doch zurecht etwas stolz auf die freiheitliche demokratische Ordnung sein, die wir auf dem Fundament des Grundgesetzes gemeinsam errichtet haben und die wir Tag für Tag mit Leben füllen. Vielleicht kann auch dieser Stolz etwas sein, das wir den autoritären und imperialistischen Feinden unserer Ordnung entgegensetzen können.
Unter den historischen Bewährungszeiten der vergangenen 75 Jahre sind - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige Ereignisse zu erwähnen, bei denen das Grundgesetz (auch durch Verfassungsänderungen) seine stabilisierende wie ermöglichende Funktion erfüllt hat: Besatzungsstatut 1949, Gründungsmitgliedschaft in den drei Europäischen Gemeinschaften 1951 bzw. 1957, Londoner Schuldenabkommen 1953, Deutschlandvertrag und Pariser Verträge 1955, Wiederbewaffnung und NATO-Mitgliedschaft 1954/56, soziale Marktwirtschaft und Wirtschaftswunder der 50er Jahre, Beitritt des Saarlands 1957, Élysée-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich 1963, Änderung der Haushalts- und Finanzverfassung 1967/69, Notstandsverfassung 1968, Linksextremistischer Terrorismus (RAF) 1970, Ostverträge mit Polen und der Sowjetunion 1972, NATO-Doppelbeschluss 1979, Beitritt der DDR und Herstellung der Verfassungseinheit in freier Selbstbestimmung 1990, Zwei-plus-Vier-Vertrag und volle Souveränität Deutschlands 1990, Gemeinsame Verfassungskommission 1992 mit Verfassungsänderungen nach der Wiedervereinigung, Gefahren durch Rechtsextremismus und -populismus seit Beginn des 21. Jahrhunderts, Islamistischer Terrorismus seit 2001, Föderalismusreform I 2006 und Föderalismusreform II 2009, Globale Banken- und Finanzkrise 2008, Euro-Krise der Europäischen Währungsunion 2010, Föderalismusreform III 2017, COVID-19-Pandemie 2019-2022, Zweiter Russischer Ukraine Krieg 2022 als "Zeitenwende".
Wie sich das Grundgesetz in Zukunft bewähren muss
Doch daran anknüpfend gilt es in "Zeiten der Bewährung" auch den Blick in die Zukunft des Grundgesetzes und des Staates, den es verfasst, zu richten: In der uns bevorstehenden Zukunft muss das Grundgesetz den Staat weiterhin befähigen, seine Kräfte priorisierend zu bündeln (Konzentration auf das Wesentliche), um inneren und äußeren Bedrohungen sowie Herausforderungen standzuhalten. Um Respekt und Akzeptanz unserer grundgesetzlichen Demokratie zu bewahren, bedarf es einer Staatsreform zum Nutzen der Demokratie – wie es auch der Bundespräsident in seinem jüngsten Buch festgestellt hat. Effizienter regulieren, Verfahren verschlanken, Prozesse und Problemlösungen beschleunigen, Chancen der Digitalisierung nutzen, Zutrauen in die Politik wiederherstellen.
Was fehlt, ist möglicherweise eine Anpassung der Sicherheitsarchitektur für hybride Bedrohungssituationen, eine rationalere Regulierung mancher freiheitsrechtlicher Konstrukte (z.B. der Datenschutz), eine Renovierung bewährter, bewahrender Werte und Institutionen, eine Pragmatisierung der Einwanderungspolitik, ein europapolitischer Konfliktlösungsmechanismus bei Kompetenzstreitigkeiten und Gerichtskonflikten sowie schließlich eine tatsächliche Zeitenwende in der inneren und äußeren Resilienz (Anpassung der Wehrverfassung und Zivilverteidigung, Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze).
Unser Land, unsere Gesellschaft, unser Staat und damit unsere Verfassung befinden sich in einer Phase neuer Bewährung. Die im Grundgesetz angelegte demokratische, freiheitliche, rechtsstaatliche, sozialstaatliche und föderale Struktur unseres Staates scheint bedroht, ja ernsthaften Angriffen ausgesetzt. Diese entstammen aus geopolitischen Konflikten (Russlands Krieg gegen die Ukraine, Situation in Nah-Ost), wirtschaftlich bedingten Transformationsprozessen mit dem Ziel des Klimaschutzes, dem Verlust von Vertrauen in die grundgesetzlich verfassten Organe und Institutionen (Bundestag, Bundesregierung, Parteien), gesellschaftspolitischer Radikalisierung und Spaltung und manchem mehr. Hinzu kommt noch, dass diese Ursachen sich wechselseitig verstärken. Doch das Grundgesetz soll und kann auch in dieser Zeit der Bewährung seinen Beitrag leisten, die Herausforderungen zu bestehen. Dafür gilt es, beide Bewährungsaspekte zu vereinen: Sowohl erfolgreiche Lösungshilfen aus dem Grundgesetz der vergangenen Jahrzehnte zu beschreiben, wie auch aktuelle Lösungsnotwendigkeiten mithilfe des Grundgesetzes zu skizzieren.
Die Festschrift "Zeiten der Bewährung" erscheint im Verlag Wolters Kluwer, der auch hinter der LTO steht. Die Festschrift unternimmt mit ihren Beiträgen eine Bestandsaufnahme des Grundgesetzes und des durch die Verfassung begründeten Staates. Sie wirft notwendige Fragen nach Erneuerung und Reformen auf. Die Bewährungsprüfungen der Verfassung analysieren 46 Autoren aus Politik, Rechts- und Staatswissenschaft, Gesellschaft, Medien, Exekutive und Justiz.
Der Autor Hans Hofmann war lange Zeit als Leiter der Verfassungsabteilung des Bundesinnenministeriums tätig und ist Honorarprofessor für öffentliches Recht an der Humboldt-Universität. Er ist Herausgeber des Buchs.
75 Jahre Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 23.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54601 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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