Ein kleiner Schritt für die Freizügigkeit, ein großer für die Macht des Bundesverfassungsgerichts. Ausgerechnet Art. 11 GG sorgte Ende der 1950er Jahre für einen Coup de Karlsruhe - und machte aus dem Gericht einen "Hüter der Verfassung".
Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, um einen Blick auf die wichtigsten Werte der deutschen Gesellschaft zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Grundrechte vor, ihre Entwicklung und ihre Bedeutung gestern und heute.
Art. 11 Grundgesetz (GG) gehört nicht gerade zu den Grundrechten, die in den letzten 70 Jahren reihenweise für spektakuläre Urteile aus Karlsruhe gesorgt haben. Wer nun noch hektisch im Kopf oder im Gesetz nachschlägt, dem sei gesagt: Es geht um das Grundrecht auf Freizügigkeit. Heute mag es nicht sonderlich prominent sein, doch eine ganz frühe und ebenso wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wurde maßgeblich ausgelöst durch Art. 11.
Das sogenannte Elfes-Urteil gehört zu den grundlegenden Entscheidungen des BVerfG, die auch seine Rolle als "Grundrechtegericht" prägten. Wilhelm Elfes war zur Zeit der Weimarer Republik ein Zentrumspolitiker, später dann Mitglieder der CDU, und dort ein erklärter Gegner von Kanzler Adenauers Politik der Annäherung an den Westen. Elfes sah sie als Gefahr für eine Wiedervereinigung mit der DDR. Seine politische Meinung tat er auf zahlreichen Reisen im In- und Ausland kund, stand auch in Kontakt mit der SED. 1953 wurde ihm die Verlängerung seines Reisepasses untersagt. Die Begründung: Er gefährde die Belange der Bundesrepublik.
Vom Gericht zum "Hüter der Verfassung"
Nachdem er auf dem Instanzenweg auch vor dem Bundesverwaltungsgericht verloren hatte, erhob er Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Seine Argumentation: Die entsprechende Passage im Passgesetz sei nichtig, weil sie ihn unangemessen in seinem Grundrecht auf freie Ausreise aus Art. 11 Abs. 1 GG beschränke.
Das BVerfG wies dieses Vorbringen zurück, Art. 11 GG umfasse schon nach dem Wortlaut, wonach alle Deutschen "im ganzen Bundesgebiet" Freizügigkeit genießen, eben nicht die Ausreise aus eben demselben. Damit hätte die Sache zu Ende sein können – aber das noch junge Gericht nahm die Verfassungsbeschwerde zum Anlass für eine ganz bemerkenswerte Selbstverortung.
Denn, so führte es aus: "Gehört die Ausreisefreiheit auch nicht zu der durch Art. 11 Abs. 1 GG geschützten innerdeutschen Freizügigkeit, so ist sie doch als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung = verfassungsmäßigen Rechtsordnung gewährleistet." Es ist die Geburtsstunde des "Auffangrundrechts" aus Art. 2 Abs. 1 GG, auch wenn es damals noch nicht ausdrücklich so genannt wird.
Und ein noch viel gewichtigerer Schritt für das Gericht und sein Selbstverständnis: Es schafft den Sprung vom Gericht zum "Hüter der Verfassung", wie der Staatsrechtler Oliver Lepsius es in dem kritischen Geburtstags-Band "Das entgrenzte Gericht" zu 60 Jahren BVerfG 2011 ausführt.
Elfes scheitert – das Bundesverfassungsgericht gewinnt
Indem das BVerfG über Art. 2 Abs. 1 GG nun praktisch alle Verhaltensweisen des Bürgers dem Grundrechtsschutz unterwarf, zogen die Karlsruher Richter gleichzeitig auch die Einschränkungsmöglichkeiten weit, nämlich auf "jedes verfassungsmäßige Gesetz". Der weite Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG kam sozusagen nur zum Preis seines weiten Gesetzesvorbehalts – ein Nullsummenspiel? Nein, resümiert Lepsius: "Der Gewinner dieses Prozesses heißt Bundesverfassungsgericht."
Auf einen Schlag hatte sich das BVerfG eine Ausgangslage verschafft, von nun an jegliches hoheitliche Handeln zumindest am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG überprüfen zu können. Umgekehrt wird sich für so ziemlich jeden Lebenssachverhalt ein Beschwerdeführer finden lassen, der die verfassungsrechtliche Frage im Namen von jedenfalls Art. 2 Abs. 1 GG nach Karlsruhe tragen kann. Zum Beispiel rund 30 Jahre später auch das berühmte Reiten im Walde.
Und nicht zuletzt: Indem es den allgemeinen Gesetzesvorbehalt "verfassungsmäßige Ordnung" über Art. 2 Abs. 1 GG in seine Prüfung bei jeder Verfassungsbeschwerde aufgenommen hat, sorgte das Gericht dafür, jede hoheitliche Maßnahme auch auf formelle und materielle Rechtmäßigkeit überprüfen zu können. Lepsius fasst das so zusammen: "Die verfassungsmäßige Ordnung wurde subjektiviert" – und damit der Prüfung des BVerfG, das eigentlich nur über die Verfassungsmäßigkeit des konkret angegriffenen staatlichen Handelns zu entscheiden hat, über die Verfassungsbeschwerde zugänglich gemacht.
Und was wurde aus Elfes und seiner Verfassungsbeschwerde? Auch die Ausweitung auf die Allgemeine Handlungsfreiheit durch das BVerfG vermochte dem Politiker keinen Erfolg zu bescheren. Denn das Gericht hielt die Regelung im Passgesetz für korrekt und beanstandete auch nicht die Anwendung der Bestimmung.
"Eigenartig", nennt es der Staatsrechtslehrer Christoph Schönberger im gleichen BVerfG-Jubiläumsband, wenn "eines der grundlegenden Freiheitsurteile des Gerichts zum Ergebnis hatte, dass ein Deutscher, der ins Ausland reisen wollte, um dort seine Meinung zu sagen, von deutschen Behörden und Gerichten daran mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts gehindert werden konnte."
70 Jahre GG – Freizügigkeit aus Art. 11 GG: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35351 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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