Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen: Eine neue Familie für immer

von Maria Demirci

23.05.2017

Pflegekinder sollen nach einem aktuellen Gesetzesvorhaben dauerhaft in ihrer neuen Familie bleiben können – und zwar gegen den Willen der leiblichen Eltern. Maria Demirci erläutert die gängige Praxis und was sich künftig ändern könnte. 

Der Bundestag hat sich kürzlich in erster Lesung mit dem "Entwurf des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen" befasst. Das Papier räumt den Familiengerichten unter anderem die Möglichkeit ein, künftig den dauerhaften Verbleib von Kindern in einer Pflegefamilie oder in einem Heim anzuordnen - und zwar gegen den Willen der Eltern.

Bei Kindern in Pflegefamilien handelt es sich um eine besonders verletzliche Personengruppe. Sie haben in ihren Herkunftsfamilien viel Leid erfahren müssen, zum Beispiel durch körperliche Misshandlung. Zudem müssen sie mit Trennungsängsten und Beziehungsabbrüchen leben, wenn sie nach der Zeit in einer Pflegefamilie aus dieser herausgenommen werden sollen, um wieder bei den leiblichen Eltern zu leben. Um diesen Kindern mehr Sicherheit, Stabilität und Kontinuität in ihrem Leben zu verschaffen, sieht der Gesetzesentwurf die inhaltliche Ergänzung einiger familienrechtlicher Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) vor. Damit sollen die Voraussetzungen für deren dauerhaften Verbleib in der Pflegefamilie geschaffen werden.

Das Familiengericht kann bereits nach der bisherigen Rechtslage auf Antrag der Pflegeltern oder auch von Amts wegen den Verbleib eines Kindes in der Pflegefamilie gegen den Willen der Eltern anordnen, wenn und solange das Kindeswohl durch die Herausnahme aus der Pflegefamilie gefährdet wird. Die Verbleibensanordnung kann auch unbefristet ergehen. Sie darf jedoch nur solange gelten, wie sie zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung oder zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Eine ausdrückliche Regelung für die Anordnung eines dauerhaften Verbleibs fehlt derzeit im Gesetz. Die Rechtsprechung hat die Voraussetzungen hierfür festgelegt, wobei bei einem Dauerpflegeverhältnis grundsätzlich eine Rückkehrperspektive offenzuhalten ist. Eine Befristung des Pflegeverhältnisses ist deshalb bislang die Regel.

Das Ende des Befristungsdogmas

Damit das Familiengericht in Zukunft einen dauerhaften Verbleib eines Kindes in der Pflegefamilie anordnen kann, müssen nach dem Entwurf kumulativ zwei Voraussetzungen erfüllt werden:

In der Herkunftsfamilie darf trotz Beratungs- und Unterstützungsangebot eine Verbesserung der Situation für das Kind nicht erreicht worden und auch in Zukunft nicht zu erwarten sein. Weiter muss die Anordnung des dauerhaften Verbleibs dem Kindeswohl unter besonderer Berücksichtigung des Bedürfnisses des Kindes nach kontinuierlichen und stabilen Lebensverhältnissen dienen.

Das Familiengericht muss dazu eine Zukunftsprognose dahingehend treffen, dass die leiblichen Eltern zum Wohle ihres Kindes dauerhaft nicht in der Lage sein werden, ihrem Erziehungsauftrag nachzukommen. Vor allem durch die zweite Voraussetzung - Berücksichtigung von Kontinuität und stabilen Lebensverhältnissen in der Pflegefamilie - wird in Zukunft verstärkt auf die gewachsene Bindung des Kindes zu den Pflegeltern abgestellt werden müssen, welche nicht zum Schaden des Kindes zerstört werden darf.

Dem Kontinuitätsgrundsatz und damit dem kindlichen Zeitempfinden werden so ein hoher Stellenwert eingeräumt.

Die neue gesetzliche Regelung sieht aber auch vor, dass die Familiengerichte den dauerhaften Verbleib in der Pflegefamilie aufzuheben haben, wenn sich die Verhältnisse bei den leiblichen Eltern entgegen der ursprünglichen gerichtlichen Prognose tatsächlich derart verbessern, dass sie das das Kind ohne Gefährdung seines Wohls selbst erziehen können.

In seiner Entscheidung über die Aufhebung der Anordnung hat das Familiengericht zu prüfen, ob die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie unter Berücksichtigung des Bedürfnisses des Kindes nach Stabilität und Kontinuität dem Kindeswohl nicht widerspricht. Eine Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie wird bei gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen nach einem längeren Aufenthalt in derselben in Zukunft wohl nur noch erschwert möglich sein.

Elternrecht vs. Kontinuitätsgrundsatz

Ein dauerhafter Verbleib eines Kindes bei seiner Pflegefamilie kann zu einer Entfremdung und damit zum Verlust der Bindung zur Herkunftsfamilie führen. Diese Tatsache kann einer Rückkehr zu den stabilisierten leiblichen Eltern entgegenstehen.

Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen möchte einer möglichen Aushöhlung des Elternrechts jedoch entgegentreten. Der hohe Stellenwert des Kontinuitätsgrundsatzes zu Gunsten des Kindes wird daher durch Regelungen im Kindes- und Jugendhilferecht flankiert: Jugendämter, Eltern und Pflegeeltern sollen von Anfang die Frage im Blick haben, ob es sich um einen nur vorübergehenden oder dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie handeln soll. Herkunfts- und Pflegeeltern sollen hierzu von mehr Beratungs- und Unterstützungsangeboten profitieren.

Auch in Zukunft wird das Familiengericht, bevor es den dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie anordnet, eine Interessenabwägung zwischen den Grundrechtspositionen und Interessen des Kindes, dem Elternrecht der leiblichen Eltern und dem Grundrecht der Pflegefamilie vornehmen müssen. Insoweit werden die Gerichte verstärkt das Bedürfnis des Pflegekindes nach Stabilität und Kontinuität in die Interessenabwägung mit einzubeziehen haben. Das Bundesverfassungsgericht betonte bislang in solchen Konfliktfällen immer, dass das Kindeswohl bestimmend sei.

Tritt das Gesetz in Kraft, wird dies voraussichtlich zur Folge haben, dass bei länger andauernden Pflegeverhältnissen und gewachsenen Bindungen zwischen Kind und Pflegefamilie das natürliche Erziehungsrecht der leiblichen Eltern dieser Bindung als ultima ratio weichen muss, wenn die leiblichen Eltern dauerhaft ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen können.

Die Autorin Maria Demirci ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Familienrecht in der Kanzlei RDS in München. Sie engagiert sich dabei sowohl im Bereich der vorsorglichen wie auch in der konfliktbegleitenden Beratung. Sie ist Fachbuchautorin und wird in Print- und Onlinemedien häufig als Expertin zu Rate gezogen.

Zitiervorschlag

Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen: . In: Legal Tribune Online, 23.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23005 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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