Nach dem humanitären Völkerrecht sind militärische Einsätze gegen Krankenhäuser verboten. Das gilt aber nicht absolut. Wann verlieren sie den Schutz – und welche Regeln gelten dann?
Seit dem 7. Oktober herrscht Krieg in Gaza. Das erklärte Ziel der israelischen Regierung nach dem Terrorangriff der Hamas: die Terrororganisation endgültig ausschalten. Der Militäreinsatz hat bereits Tausende Opfer gefordert. Nun könnte für ein paar Tage Ruhe herrschen: Die israelische Regierung und die Hamas haben eine viertägige Feuerpause und den Austausch von 150 palästinensischen Gefangenen gegen 50 Geiseln vereinbart. Laut der Hamas soll die Kampfpause am Donnerstag um 10:00 Uhr Ortszeit (9:00 Uhr MEZ) beginnen.
Währenddessen hat Israel am Morgen erneut Ziele der Hamas im Gazastreifen angegriffen. Es soll noch eine Frist von 24 Stunden abgewartet werden, in der insbesondere die Angehörigen von Terroropfern gegen die Freilassung bestimmter Personen Einspruch beim Obersten Gericht einlegen können.
Im Zentrum der israelischen Militäroperation gegen die Hamas stehen auch Krankenhäuser, die das humanitäre Völkerrecht besonders schützt. Am Montag sollen israelische Panzer das indonesische Krankenhaus im Norden des Gazastreifens beschossen haben. Israel vermutet dort ein unterirdisches Kontrollzentrum der Hamas. Ebenso begründete das israelische Militär den umstrittenen Einsatz in der Al-Schifa-Klinik.
Ein Krankenhaus als "Todeszone"
"Dar al-Schifa" bedeutet übersetzt "Haus der Heilung", passend für ein Krankenhaus. Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) haben das Al-Schifa-Hospital in Gaza demgegenüber am Samstag als "Todeszone" beschrieben. Vor dem Eingang hätten sie ein Massengrab mit über 80 Toten gefunden. Viele Menschen seien aufgrund der prekären Versorgungssituation gestorben. Daher habe der Direktor des Krankenhauses angeordnet, sie in einem Massengrab zu beerdigen. Allerdings seien auf dem Klinikgelände auch "Anzeichen von Granatenbeschuss und Gewehrfeuer offensichtlich", heißt es in einer Mitteilung der WHO. Wer hier wen beschossen hat, ist noch unklar.
Israelische Streitkräfte hatten das Krankenhaus am 15. November gestürmt, unter Kontrolle genommen und dort tagelang nach Hamas-Terroristen und ihren Geiseln gesucht. Gefunden haben sie nach eigenen Angaben einen Tunneleinstieg sowie eine große Menge an Waffen, Munition und Handschellen. Am Dienstagabend hat die israelische Armee nach eigenen Angaben die bisher verschlossene Tür am Ende des Tunnels aufgebrochen. Was sich genau hinter der Tür befindet, war zunächst weiter unklar. War die militärische Operation am Krankenhaus völkerrechtskonform?
Grundsatz: Nur militärische Ziele dürfen angegriffen werden
Nach Art. 52 Abs. 2 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen sind Angriffe streng auf militärische Ziele zu beschränken. Israel hat das Zusatzprotokoll zwar nicht ratifiziert, diese Regelung gilt aber auch völkergewohnheitsrechtlich.
Art. 18 des vierten Genfer Abkommens bestimmt, dass Krankenhäuser "unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen bilden" dürfen und "jederzeit von den am Konflikt beteiligten Parteien geschont und geschützt werden" sollen. Ist es trotzdem gerechtfertigt, Al-Schifa und andere Krankenhäuser zum Ziel militärischer Handlungen zu machen?
Israel: Krankenhaus als Kommandozentrum der Hamas, Waffenlager und Bunker für Hamas-Führer
Israel wirft der Hamas vor, die Krankenhäuser für "terroristische Zwecke" zu missbrauchen. Es werde als Kommando- und Kontrollzentrum der Hamas, als Waffenlager und als Bunker für die Hamas-Führer verwendet. Zudem sei es der Eingang zu einem Netz aus Tunneln, über die die Hamas ihre Angriffe steuere.
Wenn das stimmt, dann verliert das Krankenhaus seinen Schutz als ziviles Objekt, dann wird es zum militärischen Ziel.
Denn der Schutz von Krankenhäusern oder anderen zivilen Objekten endet gemäß Art. 19 des vierten Genfer Abkommens, "wenn sie außerhalb ihrer humanitären Aufgaben zur Begehung von Handlungen verwendet werden, die den Feind schädigen". Das wäre dann der Fall, "wenn vom Krankenhaus selbst militärische Aktivitäten gegen das israelische Militär durchgeführt werden oder wenn dort Material gelagert wird, das hierfür eingesetzt werden kann oder wenn sich dort militärische Einheiten oder Logistik befinden", erläutert Prof. Dr. Markus Krajewski von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Das müsste man aber erst einmal beweisen, denn die Hamas und auch einige Ärzte bestreiten eine militärische Nutzung. Um die tatsächlich nachweisen zu können, müsste man allerdings "mehr als ein paar Gewehre finden", wie Prof. Dr. Christoph Safferling im SZ-Interview ausführt. "Allerdings kann man in so einer Kampfsituation keine Beweisanforderungen wie vor Gericht stellen. Zumindest hat Israel die militärische Nutzung plausibel gemacht", so Prof. Dr. Stefan Oeter von der Universität Hamburg.
Israel legte als Beleg für seine Vermutung inzwischen verschiedene Videoaufzeichnungen vor. Eines der Videos zeigt einen 55 Meter langen und zehn Meter tiefen Tunnel unter dem Krankenhaus sowie ein Waffenlager. Auf einem anderen Video sieht man nach israelischen Angaben zwei Geiseln, die in das Krankenhaus in Gaza gebracht werden. Die Aufnahme soll vom 7. Oktober stammen, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel. Die Echtheit der Videos kann derzeit aber nicht unabhängig überprüft werden.
Waffenlager sicherstellen oder Kommandostruktur ausschalten?
Selbst wenn das Krankenhaus zum militärischen Ziel geworden ist, muss Israel sich an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz halten. Dieser nötigt die Kriegsparteien zu einer Abwägung zwischen dem militärischen Vorteil des Einsatzes und den zu erwartenden Verlusten. Die Zivilbevölkerung muss so weit wie möglich geschont werden, es müssen alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um die Zahl toter Zivilisten auf ein Mindestmaß zu beschränken. "Insbesondere müsste Israel auch eine Warnung mit angemessener Frist ausgesprochen haben, um eine Evakuierung und die medizinische Ersatzversorgung zu gewährleisten", erklärt Prof. Dr. Pierre Thielbörger, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum.
"Im Gegensatz zu anderen Fällen, in denen Israel Krankenhäuser bombardiert oder mit Artillerie beschossen hat, ist es hier den risikoreicheren Weg gegangen, das Krankenhaus zu stürmen und unter Kontrolle zu nehmen. Das ist im Vergleich die schonendste Variante", erläutert Oeter.
Allerdings waren zum Zeitpunkt der Einnahme des Krankenhauses noch zum Teil schwerverletzte Patienten und Frühgeborene dort untergebracht, die erst nach und nach evakuiert werden können. Eine militärische Aktion in einem Krankenhaus stellt in jedem Fall eine Gefahr für Patienten und Mitarbeitende dar. Israel muss deshalb darlegen, was der konkrete Vorteil war und warum die erwartbaren Schädigungen dazu nicht außer Verhältnis standen. "Wenn es 'nur' um die Sicherstellung eines Waffenlagers ging, ist es etwas anderes, als wenn man die zentrale Kommandostruktur ausschalten kann", so Krajewski.
"Erhebliches Maß an Kollateralschäden in Kauf genommen"
Eigentlich müssen die Konfliktparteien es grundsätzlich auch vermeiden, innerhalb oder in der Nähe dicht bevölkerter Gebiete militärische Ziele anzulegen. Jedoch "macht die Hamas die Deckung durch die Zivilbevölkerung zum Teil ihres Kampfes, führt die Angriffe aus einem dicht besiedelten urbanen Gebiet heraus und verteidigt sich unter Inanspruchnahme menschlicher Schutzschilde", so Völkerrechtler Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen im LTO-Interview.
Das macht die Verteidigung dagegen so schwierig. Wenn die Streitkräfte an sich zulässige Ziele angreifen, kann es auch dazu kommen, dass auch zivile Objekte getroffen oder Zivilisten getötet werden, das sind sogenannte Kollateralschäden. Diese müssen aber ebenfalls auf ein Minimum beschränkt werden.
Im Gazastreifen sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums bislang über 13.000 Menschen getötet worden. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Zahlen nicht. "Israel hat ein erhebliches Ausmaß an Kollateralschäden in Kauf genommen", so Oeter. Das könne aber – je nach Kontext der Operation – auch gerechtfertigt sein. "Um diese Frage abschließend zu beurteilen, braucht man aber konkretere Informationen. Jedenfalls kann man nicht von der bloßen Anzahl der Toten auf Kriegsverbrechen schließen", meint Oeter.
Ein Fall für den IStGH?
Das aber wirft Südafrika Israel vor und hat mittlerweile den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu Ermittlungen aufgefordert.
Israel erkennt den IStGH zwar nicht an, Palästina hat aber den Beitritt zum Rom-Statut erklärt. Ob dieser Beitritt wirksam ist, ist zwar sehr umstritten, aber zumindest eine Vorverfahrenskammer des IStGH sieht das in einer Entscheidung aus dem Februar 2021 so. Bei dieser Gelegenheit hat der Gerichtshof auch seine Zuständigkeit für die seit 1967 besetzten Gebiete Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza festgestellt. Deshalb kann er auch bei möglichen Straftaten von Nichtmitgliedern in diesen Gebieten ermitteln. Bereits im März 2021 hatte die damalige Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten eingeleitet.
Auch der amtierende Chefankläger Karim Khan hatte bereits angedeutet, dass der IStGH im aktuellen Konflikt ermittelt.
Neben den Verbrechen der Hamas wird es auch um das Verhalten Israels gehen. Im Fokus wird dabei unter anderem die Frage stehen, ob die Videoaufzeichnungen der israelischen Streitkräfte echt sind. "Unabhängige forensische Expert:innen der Vereinten Nationen oder des IStGH müssen die Videos sichern und mit Mitteln moderner Informationstechnologie auf ihre Authentizität überprüfen", so Krajewski. Erst dann lässt sich aufklären, ob die Krankenhäuser zulässigerweise zum militärischen Ziel wurden.
Mit Materialien der dpa
Israels Militäroperation im Al-Schifa-Hospital: . In: Legal Tribune Online, 22.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53240 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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