Die EU will Boote mit Migranten aus Nordafrika gar nicht erst in die Nähe ihrer Küstengewässer kommen lassen, um so eine Entscheidung über ihre Aufnahme als Flüchtlinge zu vermeiden. Dabei ist die menschenwürdige Behandlung der Betreffenden und eine Prüfung ihres Anliegens nicht nur eine politisch-ethische Frage, sondern rechtlich sogar geboten. Von Dr. Timo Tohidipur.
Mit dem Abfangen von Flüchtlingsbooten vor der tunesischen Küste begeben sich die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten auf ein nur schwer mit völker- und europarechtlichen Vorschriften zu vereinbarendes Terrain. Denn die Rechte der Flüchtlinge gebieten zumindest eine Prüfung ihres Anliegens, unabhängig davon, ob sie nun auf dem Landweg oder auf See aufgegriffen werden. Es besteht kein "humanitärer Notstand" für die Staaten, sondern vielmehr für den einzelnen Flüchtling, der im rechtsstaatlich organisierten Europa Schutz sucht und ungehört zurückgewiesen wird.
Sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten haben in den letzten Jahren viele Abkommen mit ihren Nachbarstaaten geschlossen, darunter auch die Staaten Nordafrikas. Demnach sind diese unter anderem dazu verpflichtet, keine oder jedenfalls nicht mehr allzu viele Flüchtlinge in die Nähe der Union zu lassen - eine menschenrechtlich äußerst fragwürdige Praxis.
Nach den politischen Erdrutschen in Staaten wie Ägypten und Tunesien offenbaren sich als Folge des Umsturzes autoritärer Regime nun instabile Verhältnisse der Staatsmacht an den südlichen Küsten des Mittelmeeres. Der konstruierte Sicherheitsring um die EU bekommt damit Risse.
Sicherheitskräfte vor Tunesiens Küste verletzen staatliche Souveränität
Dass nun Flüchtlinge aus Tunesien und Ägypten verstärkt versuchen, die nahegelegene italienische Insel Lampedusa und damit den politischen Raum der EU zu erreichen, stellt die Union vor eine migrationspolitische Herausforderung. Statt diese aber überlegt anzugehen, sollen nun in einem eiligen Reflex die Boote möglichst schnell und früh abgefangen und zurückgeschickt werden.
Dabei existiert für die Grenzsicherung durch Stationieren europäischer Sicherheitskräfte direkt an der Mittelmeerküste Tunesiens nach der Ablehnung durch die tunesische Regierung keine Rechtsgrundlage. Grund ist die Souveränität eines jeden Staates; die Charta der Vereinten Nationen betont diesbezüglich das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die souveräne Gleichheit der Staaten.
Rechtlich nichts anderes gilt für die Gewässer vor der tunesischen Küste. Diese gehören nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) ebenfalls zum souveränen Staatsgebiet Tunesiens.
Einsätze der Grenzschutzagentur Frontex nur schwer kontrollierbar
In den Küstengewässern der Mitgliedstaaten der EU, der Anschlusszone sowie auf Hoher See (Art. 2, 33 und 87 ff. SRÜ) dürfen die europäischen und nationalstaatlichen Grenzschutzbehörden grundsätzlich autonom agieren. Während allerdings die Mitgliedstaaten für die Erlaubnis auf Einreise immer noch selbst zuständig sind, koordiniert die Kontrolle für die EU seit sechs Jahren die Europäische Grenzschutzagentur Frontex. Diese ist ihrerseits eine selbstständige Verwaltungsbehörde, die die politischen Vorgaben der restriktiven Migrationspolitik der EU durchsetzen soll.
Rechtsgrundlage für Frontex sind zwei Verordnungen, die auf Art. 77 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) gestützt sind. Demnach steht der EU die Kompetenz zur Regelung der Kontrollen von Personen beim Überschreiten der Außengrenzen zu. Die von der Grenzschutzagentur jährlich erstellten Lagepläne dienen als Grundlage für fortlaufende oder auch einmalige Einsätze an allen äußeren See- und Landgrenzen der EU.
Nach dem jüngsten Einsatz an der griechisch-türkischen Grenze, der im November 2010 begann und mindestens bis März 2011 andauert, wurde nun im Zuge der Ereignisse in Nordafrika zum zweiten Mal ein so genanntes Soforteinsatzteam angefordert, das Frontex aus Grenzbeamten der EU-Mitgliedstaaten eilig zusammengestellt hat. Eine Mission der Agentur im aktuellen Fall der nordafrikanischen Flüchtlinge wird bereits vorbereitet.
Nach wie vor problematisch sind die mangelnde Transparenz der Frontex-Einsätze und die unzureichenden Mechanismen politischer und rechtlicher Kontrolle. Die von der Agentur selbst erstellten Einsatzpläne sind darauf ausgerichtet, "illegale Migration" effektiv zu verhindern.
Rein formal ist Frontex also erfolgreich, wenn immer weniger Menschen das europäische Festland erreichen. Allerdings lässt die reine Abwehr von Flüchtlingen außer Acht, ob die betreffenden Personen ein legales Anliegen haben, wie etwa einen rechtsrelevanten Fluchtgrund oder eine individuelle Schutzbedürftigkeit.
Abfangen auf See unterläuft effektive Rechtsschutzmöglichkeiten
Es wird außer Acht gelassen, dass die europäischen Grenzschutzbehörden in Ausübung staatlicher Hoheitsmacht agieren und deshalb an die Rechtspflichten der Staaten aus dem vielgestaltigen internationalen Flüchtlingsrecht gebunden bleiben.
Diese verbindlichen Rechtspflichten ergeben sich insbesondere aus der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33), der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 3 in Verbindung mit Art. 13), dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 7) und dem Recht der EU. Sie verbieten das "refoulement", also das sofortige Zurückweisen von Flüchtlingen. Das gilt so lange, bis ein administratives oder gerichtliches Verfahren zur Überprüfung des individuellen Schutzbegehrens der potentiell schutzbedürftigen Person abgeschlossen ist.
Ob diese Kriterien bei der Verfolgung von Flüchtlingsbooten eingehalten werden, ist auch angesichts wiederholter Todesfälle nach oder durch Zurückweisung äußerst zweifelhaft. Zumindest müsste den betreffenden Personen angesichts der oft mangelnden Seetüchtigkeit der Schiffe und der damit verbundenen Lebensgefahr auf See Hilfe geleistet werden, was unter anderem Art. 98 SRÜ zwingend festlegt.
Dabei bleiben die jedenfalls auf dem Papier bestehenden Klagemöglichkeiten gegen Frontex vor dem Gerichtshof der EU oder gegen Grenzbeamte der Mitgliedstaaten vor den nationalen Verwaltungsgerichten praktisch nutzlos, wenn die Betroffenen bereits auf See zurückgewiesen werden und ihr Begehr nicht einmal äußern können. Klar ist: Art. 2 des EU-Vertrages postuliert ausdrücklich "Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte" als Werte der Union. Hieran muss sie sich auch im aktuellen Fall der nordafrikanischen Flüchtlinge messen lassen.
Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Öffentliches Recht der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und beschäftigt sich intensiv mit dem Grenzschutzregime der EU.
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Timo Tohidipur, Flüchtlingsdrama: . In: Legal Tribune Online, 17.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2561 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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