Statt einer Arbeitnehmerin zu kündigen, kürzte ein spanischer Arbeitgeber ihr Gehalt - und die Frau ging freiwillig. Rechtlich handelt es sich dennoch um eine Entlassung, so der EuGH. Von Kara Preedy und Verena Oechslen.
Um den Schutz von Arbeitnehmern bei Massenentlassungen zu verbessern, erließ die Europäische Union 1998 die Richtlinie 98/59/EG. Liegt eine Massenentlassung im Sinne der Richtlinie vor, hat dies erhebliche Konsequenzen für den Arbeitgeber: Er muss Anzeige bei der Agentur für Arbeit erstatten und den Betriebsrat im Vorfeld umfassend unterrichten. Tut er dies nicht oder fehlerhaft, sind die Entlassungen unwirksam. Die Massenentlassungsanzeige ist für den Arbeitgeber zum einen mit einem erheblichen formalen Aufwand verbunden.
Problematisch ist insbesondere, dass die Rechtsprechung inzwischen hohe Anforderungen an die Anzeige bei der Agentur für Arbeit stellt, die sich nicht mehr mit dem Schutzgedanken der rechtzeitigen Information aus arbeitsmarktpolitischen Gründen erklären lassen. Die Massenentlassungsanzeige ist ein weiteres Werkzeug geworden, um die Unwirksamkeit von Kündigungen zu begründen. Massenentlassungen im Sinne der EU-Richtlinie bedeuten also viel Arbeit und ein hohes Risiko für den Arbeitgeber – was die Motivation der Arbeitgeber steigert, unter den entsprechenden gesetzlichen Schwellenwerten zu bleiben.
Hinsichtlich der Höhe der Schwellenwerte lässt die Richtlinie den Mitgliedsländern einen gewissen Spielraum, in Deutschland sind die Werte in § 17 Kündigungsschutzgesetz geregelt, wobei die Betriebsgröße für die genauen Zahlen entscheidend ist. In mittelgroßen Betrieben liegt der Schwellenwert bei 10 Prozent der Belegschaft, in größeren Betrieben liegt er bei der Entlassung von mindestens 30 Arbeitnehmern.
Arbeitgeber wollte Schwellenwerte umgehen
Will der Arbeitgeber das Erreichen dieser Schwellenwerte vermeiden, liegt die Idee nahe, den Arbeitnehmern nicht zu kündigen, sondern ihnen eine Eigenkündigung oder einen Aufhebungsvertrag vorzuschlagen. So ging auch der spanische Arbeitgeber vor. Er kürzte das Festgehalt einer Arbeitnehmerin einseitig um 25 Prozent, woraufhin diese einer Aufhebungsvereinbarung zustimmte. Ob die Arbeitnehmerin dadurch "entlassen" worden war, war entscheidend dafür, ob der Arbeitgeber die Schwellenwerte für Massenentlassungen nach spanischem Recht überschritt.
Kern des Falls war also die Frage, wann eine Entlassung im Sinne der Richtlinie vorliegt. Eine rein formale Betrachtung, die nur die arbeitgeberseitigen Kündigungen zählt, würde dem Schutzzweck der Richtlinie nicht gerecht werden. Dementsprechend findet sich in der EU-Richtlinie bereits eine Regelung dazu, dass "Entlassungen Beendigungen des Arbeitsvertrages gleichgestellt [werden], die auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, erfolgen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens fünf beträgt." Veranlasst der Arbeitgeber die Arbeitnehmer zu Aufhebungsverträgen oder kommt der Arbeitnehmer mit seiner Kündigung nur der betriebsbedingten Kündigung zuvor, soll dies grundsätzlich einer Entlassung entsprechen.
EuGH legt Begriff der Entlassung weit aus
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sah in der einseitigen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen eine Entlassung im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie. Kennzeichnend für Entlassungen sei die fehlende Zustimmung des Arbeitnehmers zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Diese fehle auch, wenn der Arbeitgeber einseitig und zu Lasten des Arbeitnehmers eine erhebliche Änderung der wesentlichen Bestandteile des Arbeitsvertrags vornimmt.
Angesichts der Zielsetzung der Richtlinie, so der EuGH, dürfe der Begriff der Entlassung nicht zu eng ausgelegt werden. Würde eine Beendigung wie im vorliegenden Fall nicht unter den Begriff gefasst werden, würde der Richtlinie ein Teil ihrer Wirksamkeit genommen.
Größerer Schutzbereich nach deutschem Recht
Unmittelbare Bedeutung entfaltet das Urteil im deutschen Recht nicht. Unabhängig davon, dass die einseitige Kürzung des Gehalts durch den Arbeitgeber unwirksam wäre – was sie im Übrigen auch nach spanischem Recht ist – kommt es auf die Art der Beendigung, solange sie auf Veranlassung des Arbeitgebers erfolgt, in Deutschland grundsätzlich nicht an. Würde der Arbeitgeber versuchen, die Änderung der Arbeitsbedingungen durch eine Änderungskündigung umzusetzen, würde auch diese als Entlassung gezählt werden, wenn der Arbeitnehmer das Angebot der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu anderen Bedingungen nicht annimmt.
Festzuhalten bleibt, dass der EuGH in seiner Auslegung der Massenentlassungsrichtlinie starkes Augenmerk auf den Schutz der Arbeitnehmer legt. Arbeitgeber in Europa werden es damit also auch weiterhin schwer haben, die Schwellenwerte durch gezielte Beendigungskonstruktionen zu unterschreiten. Die von deutschen Gerichten aufgestellten Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige gehen allerdings ohnehin bereits weit über das durch die Richtlinie Geforderte hinaus. Ob dieser strenge Kurs in Zukunft beibehalten wird, bleibt abzuwarten. Nach derzeitiger Lage sollten Arbeitgeber jedenfalls genau prüfen, ob auch Aufhebungsverträge und Vorruhestandsvereinbarungen bei einer Massenentlassungsanzeigen anzugeben sind, um die Unwirksamkeit der Kündigungen der Kollegen zu vermeiden.
Die Autorin Dr. Kara Preedy ist Partnerin der Kanzlei Pusch Wahlig Legal, Verena Oechslen ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin. Pusch Wahlig Legal berät nationale und internationale Unternehmen und Führungskräfte in allen Fragen des Arbeitsrechts.
EuGH verbietet Massenentlassungen durch die Hintertür: . In: Legal Tribune Online, 12.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17524 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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