Durfte Spiegel Online umstrittene Texte des Grünen-Politikers ohne dessen Zustimmung veröffentlichen? Die Luxemburger Richter befassten sich mit dem deutschen Urheberrecht – mit weitreichenden Konsequenzen, zeigt Martin Gerecke.
Die Nutzung eines geschützten Werks in der Berichterstattung über Tagesereignisse erfordert grundsätzlich keine vorherige Zustimmung des Urhebers. Außerdem kann das Zitat eines Werks mittels eines Hyperlinks erfolgen, sofern das zitierte Werk der Öffentlichkeit zuvor in seiner konkreten Gestalt mit Zustimmung des Urheberrechtsinhabers zugänglich gemacht wurde. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Montag entschieden (Urt. v. 29.07.2019, Az. C-516/17).
Der Entscheidung zugrunde liegt der Fall Volker Becks, Grünen-Politiker und zwischen 1994 und 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er hatte 1988 einen Artikel verfasst, der sich mit der Entkriminalisierung von gewaltfreien sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern befasste und seinerzeit in einer Textsammlung veröffentlicht wurde. Dabei veränderte der Herausgeber den Titel des Manuskripts und kürzte im Text einen Satz.
Beck beanstandete das gegenüber dem Herausgeber und forderte ihn vergeblich auf, dies bei der Veröffentlichung der Textsammlung kenntlich zu machen. Seit dem Jahr 1993 distanzierte sich Beck vollständig vom Inhalt des Artikels. Nachdem im Jahr 2013 in einem Archiv das Originalmanuskript aufgefunden und Beck vorgelegt worden war, übermittelte dieser das Manuskript an mehrere Zeitungsredaktionen als Beleg dafür, dass es seinerzeit für den Buchbeitrag verändert worden sei. Einer Veröffentlichung der Texte stimmte er dabei aber nicht zu.
Gleichzeitig stellte er jedoch auf seiner Internetseite das Manuskript und den Buchbeitrag mit dem Hinweis ein, er distanziere sich von dem Beitrag, wobei er mit einer Verlinkung seiner Internetseite durch die Presse einverstanden war. Im September 2013 veröffentlichte Spiegel Online einen Presseartikel und behauptete, Beck habe die Öffentlichkeit jahrelang getäuscht, weil der wesentliche Inhalt seines Manuskripts in der Ausgabe von 1988 nicht verfälscht worden sei. Zusätzlich zu diesem Presseartikel konnten die Leser über einen Link das Manuskript und den im Sammelband veröffentlichten Artikel als PDF abrufen und herunterladen – allerdings ohne Becks Distanzierungsvermerk.
Was der BGH vom EuGH wissen wollte
Beck ist der Ansicht, dass durch die Veröffentlichung der Texte sein Urheberrecht verletzt worden ist. Er hat Spiegel Online deshalb auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen. Nachdem das Landgericht Berlin der Klage stattgab (Urt. v. 17.06.2014, 15 O 546/13) und das Kammergericht die Berufung zurückwies (Urt. v. 07.10.2015, 24 U 124/14), verfolgte das Online-Nachrichtenmagazin mit seiner vom Bundesgerichtshof (BGH) zugelassenen Revision ihren Klageabweisungsantrag weiter. Mit Beschluss vom 27. Juli 2017 (Az. I ZR 228/15) setzte der BGH das Verfahren aus und legte dem EuGH einzelne Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Im Wesentlichen ging es dem BGH um zwei Fragen. Erstens: Ist die Veröffentlichung des Original-Beitrags von der erlaubnisfreien Schranke des Zitatrechts (§ 51 UrhG) gedeckt, obwohl er vollständig als PDF-Datei vom Verlag auf einer separaten Webseite verlinkt wurde? Und zweitens: Fällt die Nutzung des Original-Beitrags unter die Schranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG)? Hierbei kam es dem BGH vor allem auf die Frage an, ob vor der Nutzung durch Spiegel Online notwendigerweise die Zustimmung des Rechtsinhabers – hier also Beck – einzuholen war.
Der EuGH beantwortet diese Fragen in aller Klarheit und setzt damit neue Maßstäbe für die Anwendung der nationalen Schranken des Zitatrechts und der Berichterstattung über Tagesereignisse.
Spiegel Online wird sich wohl nicht aufs Zitatrecht berufen können
In Bezug auf das Zitatrecht stellt der EuGH in seiner Entscheidung vom Montag zunächst fest, dass es nicht notwendig sei, dass das zitierte Werk untrennbar in das Hauptwerk eingebunden wird, zum Beispiel durch Einrückungen oder in den Fußnoten. Vielmehr könne sich ein solches Zitat auch – wie im Fall von Beck – aus der Verlinkung auf das zitierte Werk ergeben.
Allerdings müsse die Nutzung den "anständigen Gepflogenheiten" entsprechen und durch den besonderen Zweck gerechtfertigt sein. Ob dies bei der vollständigen Veröffentlichung des Original-Beitrags (wohlgemerkt ohne Becks Distanzierungsvermerk) der Fall ist, wird nun der BGH zu beantworten haben. Das beklagte Online-Magazin hatte argumentiert, nur durch die Veröffentlichung des Originals würden die Unterschiede zum im Sammelband veröffentlichten Beitrag deutlich werden.
Entscheidender ist aber ein anderer Aspekt, auf den der EuGH hinweist: Die Ausnahme für Zitate gelte nur, wenn das fragliche Zitat ein Werk betrifft, das der Rechtsinhaber der Öffentlichkeit in seiner konkreten Gestalt rechtmäßig zugänglich gemacht hat. Das Originalmanuskript hat Beck aber nur mit seinem Distanzierungsvermerk zugänglich gemacht. Seine Zustimmung zur Veröffentlichung ohne den Vermerk erteilte er ausdrücklich nicht.
Fraglich ist auch, ob der geänderte Buchbeitrag überhaupt rechtmäßig veröffentlicht wurde, denn möglicherweise hatte Becks Herausgeber vertraglich gar nicht das Recht erhalten, den Originalbeitrag abzuändern. Vieles spricht deshalb dafür, dass der Spiegel sich nicht auf das Zitatrecht nach § 51 UrhG berufen kann.
EuGH lockert Ausnahmevoraussetzungen bei tagesaktueller Berichterstattung
Vielleicht aber hilft dem Spiegel die Ausnahme der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG). Bislang war in der deutschen Rechtsprechung anerkannt, dass es an der Gebotenheit der vergütungslosen Nutzung fehlt, wenn es dem Nutzer möglich und zumutbar ist, vor der Nutzung die Zustimmung des Rechtsinhabers einzuholen (so noch der BGH, Urt. v. 27.03.2012, Az. KZR 108/10). Dieser Voraussetzung erteilte der EuGH am Montag aber eine Absage: Die Mitgliedstaaten dürften bei der Umsetzung einer Ausnahme wie der des § 50 UrhG eben jene nicht davon abhängig machen, dass der Urheber zuvor um seine Zustimmung gebeten wurde.
Der Umstand, dass Spiegel Online Beck vor der Veröffentlichung des Originalbeitrags (ohne Distanzierungsvermerk) nicht um Erlaubnis fragte (die er ohnehin nicht erteilt hätte), ist demnach unschädlich. Das allein macht die Veröffentlichung aber noch nicht zulässig. Sie muss auch geboten und erforderlich gewesen sein, um das verfolgte Informationsziel zu erreichen. Ob dies der Fall war, wird ebenfalls der BGH beantworten müssen.
Der Rechtsstreit ist also längst nicht entschieden. Der EuGH diktiert dem BGH aber wichtige Prämissen für die Schrankenregelungen der §§ 50 und 51 UrhG. Der Spiegel wird damit voraussichtlich nur auf die Anwendung des § 50 UrhG hoffen können. Insofern ist die Absage an die erforderliche vorherige Einholung der Zustimmung des Urhebers ein wichtiges Signal des europäischen Gerichts.
Über allem aber stehen grundlegende Abwägungsfragen zwischen dem Recht Becks als Urheber auf Schutz seines geistigen Eigentums und dem Recht der Presse auf freie Berichterstattung. Diese bekommt im Rahmen politischer Auseinandersetzungen und Diskussionen von allgemeinem öffentlichem Interesse üblicherweise besonderes Gewicht, worauf auch der EuGH hinweist. Dies könnte für den BGH der entscheidende Fingerzeig sein.
Der Autor Dr. Martin Gerecke, M. Jur. (Oxford) ist Rechtsanwalt bei der Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland und berät Unternehmen und Einzelpersonen im Urheberrecht, Presse- und Äußerungsrecht sowie zum Recht der neuen Medien.
Der Fall Volker Beck vor dem EuGH: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36739 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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