Die deutschen Grenzwerte für Schadstoffe in Kinderspielzeug sind unnötig niedrig und müssen angehoben werden, so der EuGH. In seiner Entscheidung räumt er der Kommission ein sehr weites Ermessen ein, kommentiert von Ulrich Ellinghaus.
Schon vor sechs Jahren hatte die Europäische Kommission die Neufassung der Spielzeugrichtlinie zum Anlass genommen, bestehende Grenzwerte für einige Gefahrstoffe in Spielzeug anzuheben. Allerdings war Deutschland schon damals der Auffassung, dass diese Grenzwertanhebung den Gesundheitsschutz für Kinder verschlechtert. So stellte das Bundesinstitut für Risikobewertung im Jahr 2012 in einer Stellungnahme zu den gesundheitlichen Risiken durch Schwermetalle aus Spielzeug fest, dass die Erhöhung der Migrationsgrenzwerte, unter anderem für Antimon, Arsen und Quecksilber "aus Sicht des gesundheitlichen Verbraucherschutzes nicht tolerabel" sei. Dementsprechend setzte Deutschland die Spielzeugrichtlinie zwar in nationales Recht um, behielt jedoch die bisherigen, niedrigeren Grenzwerte für einige Gefahrstoffe bei.
Zwar darf ein Mitgliedsstaat nicht ohne Weiteres von gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben abweichen. Allerdings kann er sich die Beibehaltung eines "höheren Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit" von der Europäischen Kommission genehmigen lassen. Diesen Antrag Deutschlands lehnte die Europäische Kommission schon im März 2012 ab und verpflichtete Deutschland dazu, nach Ablauf einer Übergangsfrist bis zum 21. Juli 2013 die neuen Werte gesetzlich festzuschreiben. Das hiergegen von Deutschland angerufene Gericht der Europäischen Union (EuG) gab der Kommission Recht: Deutschland habe nicht bewiesen, dass die deutschen Grenzwerte für Antimon, Arsen und Quecksilber einen höheren Gesundheitsschutz gewährleisteten als die neuen europäischen Grenzwerte, die erstmals zwischen "trockenen", "flüssigen" und "abschabbaren" Spielzeugmaterialien unterscheiden und je nach Konsistenz unterschiedliche, aber teilweise* höhere Grenzwerte festlegen. Nun hat auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Auffassung von Kommission und Vorinstanz bestätigt.
Mitgliedstaaten müssen höheres Schutzniveau nachweisen
Zunächst erkennt der Europäische Gerichtshof an, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich nationale, dem Gesundheitsschutz dienende Bestimmungen aufrechterhalten darf, wenn er die Gefahren für die öffentliche Gesundheit anders bewertet, als es der Unionsgesetzgeber getan hat. Allerdings muss der Mitgliedsstaat in einem solchen Fall nachweisen, dass seine einzelstaatlichen Bestimmungen tatsächlich ein höheres Schutzniveau für die öffentliche Gesundheit gewährleisten, als die Harmonisierungsmaßnahme der Union. Diesen Nachweis habe Deutschland für die fraglichen Gefahrstoffe aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs jedoch nicht erbracht.
Der Gerichtshof stellt klar, dass das erstinstanzliche Gericht nicht verpflichtet war, eigene Ermittlungen anzustellen. Stattdessen konnte sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die von der Europäischen Kommission vorgenommene Würdigung sachlich richtig, vollständig und plausibel war. Im Übrigen durfte es sich auf die von der Europäischen Kommission vorgelegten Expertenaussagen verlassen. Deutschland hingegen hätte nachweisen müssen, dass bei Beibehaltung der bisherigen, strengeren Grenzwerte, tatsächlich ein höheres Schutzniveau erreicht wird. Ein solcher Nachweis ist Deutschland nach Auffassung von Kommission und Gerichten jedoch nicht gelungen.
Steine statt Brot für Mitgliedstaaten
Mit seiner Rechtsprechung gibt der Gerichtshof dem betroffenen Mitgliedsstaat Steine statt Brot: Zwar wird zunächst die Tür geöffnet, indem die Kommission verpflichtet wird, eine strengere einzelstaatliche Maßnahme zu billigen, wenn sie denn zu einem höheren Schutzniveau führt. Dieselbe Tür wird dann aber gleich wieder zugeschlagen, indem der Kommission ein weites Beurteilungsermessen bei der Frage eingeräumt wird, welche "Beweise" zugelassen werden und wie diese zu würdigen sind. Zumal in Fällen, in denen komplexe technische Beurteilungen vorzunehmen sind. In solchen Fällen findet auch durch die Tatsacheninstanz nur eine eingeschränkte Überprüfung statt. Zudem müssen die vom Mitgliedstaat vorgetragenen Beweise für ein höheres Schutzniveau von besonderem Gewicht sein. Diese Hürde vermochte die Bundesrepublik im Hinblick auf die von ihr erstrebten Grenzwerte nicht zu nehmen, auch nicht mit Hilfe der gesundheitlichen Bewertungen des Bundesamtes für Risikobewertung.
Folgerichtig war dann nur noch, dass der Gerichtshof die weitere Argumentation der Bundesrepublik ebenso wenig gelten ließ. So hatte Deutschland argumentiert, das "höhere Schutzniveau" der deutschen Regelung ergäbe sich ja schon aus dem Vergleich der Grenzwerte. Da weniger Schadstoff aber nicht notwendigerweise mehr Gesundheitsschutz bedeutet, wies der Gerichtshof darauf hin, dass die Bundesrepublik mit dieser Diskussion "in Wirklichkeit" in eine erneute Prüfung der Beweislage eintreten wolle. Eine solche Prüfung konnte der Gerichtshof aber schon deshalb nicht zulassen, weil seine Prüfung auf Rechtsfragen beschränkt ist.
Da Deutschland bis zur nunmehr ergangenen Entscheidung in der Hauptsache die bisherigen Werte beibehalten durfte, muss der Gesetzgeber jetzt tätig werden und die immer noch geltende deutsche Regelung zur "Bioverfügbarkeit" von Antimon, Arsen und Quecksilber in § 10 Abs. 3 der Spielzeugverordnung an die weniger strengen Grenzwerte der Europäischen Union anpassen.
Prof. Dr. Ulrich Ellinghaus ist Partner bei Baker & McKenzie im Bereich Sicherheits- und Umweltrecht.
* Anm. d. Red.: Hier stand zunächst "generell". Geändert am 13.07.2015, 10:32.
EuGH zu Schadstoffen in Kinderspielzeug: . In: Legal Tribune Online, 10.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16153 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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