Das wäre aber evident rechtswidrig: Die Zuordnung der Kompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten kann nicht von einer (noch dazu regelmäßig im Mehrheitsmodus getroffenen) Entscheidung des Rates abhängen. Dies ergibt sich schon aus dem grundlegenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Kompetenzen der Union bestehen demnach nur, soweit sie von den Mitgliedstaaten übertragen wurden.
Die Übertragung von Kompetenzen auf die Union richtet sich in Deutschland nach Art. 23 des Grundgesetzes. Die Begründung neuer Kompetenzen der EU durch einen Beschluss des Rates wäre hiernach gar nicht zulässig. Für die vergleichbare Ausweitung der Binnenkompetenz über Art. 352 AEUV, die die Generalanwältin für ihre weite Auslegung mit heranzieht (Rn. 368), sieht § 8 Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) eine einfachgesetzliche Ermächtigung vor der Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat vor. Über den Abschluss von Freihandelsabkommen würde dieses fein ziselierte System schlichtweg ausgehebelt, wenn sich die Generalanwältin mit ihrer Auffassung durchsetzen würde.
Nach Ansicht der Generalanwältin soll der Beschluss der Mitgliedsstaaten im Rat die Aufteilung der Kompetenzen im Bereich der geteilten Zuständigkeiten ordnen können. Sharpston empfiehlt, dass den Ratifizierungsbeschlüssen im Rat eine Kompetenzerklärung beigefügt werden soll, in der der Rat präzise die Bereiche benennen soll, die durch die EU einerseits und die Mitgliedstaaten andererseits durchgeführt werden (Rn. 76).
Da es weder bei EUSFTA noch bei CETA eine solche Liste von Kompetenzen gibt, ist die Stellungnahme der Generalanwältin nicht nur wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung bedenklich, sondern auch deshalb, weil weder für die Verträge mit Singapur und Kanada noch für andere Freihandelsabkommen klar ist, welche Bereiche nun tatsächlich der Unionskompetenz und welche Mitgliedsstaatskompetenz unterfallen sollen. Es ist schon erstaunlich, dass bislang kein Akteur im europäischen Verfassungsverbund auch nur den Versuch unternommen hat, einmal verbindliche Schneisen ins Kompetenzdickicht einzuziehen. Der schwarze Peter für diese Aufgabe wird immer wieder weitergereicht. Prokrastination als Programm.
Politische Entscheidung statt demokratischer Rückbindung: nicht mit dem BVerfG
Die Schlussanträge der Generalanwältin, die den Zuständigkeitsstreit klären sollten, führen also wieder zum Anfang zurück: Die entscheidenden Fragen bleiben offen. Es ist zu hoffen, dass der Gerichtshof in seinem Gutachten, anders als die Generalanwältin, klare Kriterien für die Abgrenzung der Kompetenzen von Mitgliedstaaten und Union im Bereich geteilter Zuständigkeit benennen wird.
Der EuGH wird dabei beachten müssen, dass das BVerfG in Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten durchaus mitredet. Zu erwarten ist, dass Karlsruhe eine uferlose Ausweitung der Kompetenzen der Union aus geteilter Zuständigkeit nicht akzeptieren wird. Auch eine Konstruktion, die die Kompetenzabgrenzung von einer Entscheidung des Rates abhängig macht und die Notwendigkeit demokratischer Kontrolle negiert, dürfte wenig Aussicht haben, die ultra-vires-Kontrolle zu passieren. Nur eine klare und vorhersehbare Abgrenzung der Kompetenzen, die auch der Rolle des Bundestages gerecht wird, dürfte vom BVerfG akzeptiert werden.
Angesichts dieser nunmehr offenkundigen und nicht mehr zu leugnenden europa- und verfassungsrechtlichen Unklarheiten erscheint es fast zwingend, dass die vorläufige Anwendung von CETA erst nach Klärung dieser Fragen durch den EuGH und das BVerfG erfolgt. Das wäre jedenfalls ein Beitrag zur Deeskalation in einem rechtspolitisch strittigen Politikfeld, der der Sache und der demokratischen Legitimation europäischer Politik insgesamt gut zu Gesicht stünde.
Der Autor Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M., lehrt Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bremen. Er ist im Verfahren über das vergleichbare Freihandelsabkommen CETA vor dem Bundesverfassungsgericht Bevollmächtigter eines Teils der Beschwerdeführer. Hier gibt er seine persönliche Meinung wieder.
Der Autor Johan Horst, LL.M., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für europäische Rechtspolitik der Universität Bremen.
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