Die EuGH-Generalanwältin ist der Auffassung, dass Asylbewerber rechtlich gegen die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat vorgehen können, wenn die Staaten die Fristen zur Klärung der Zuständigkeit gerissen haben. Von Timo Tohidipur.
Die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH) Eleanor Sharpston hält in ihren Schlussanträgen vom Dienstag Rechtsmittel eines Asylbewerbers gegen eine Zurückschiebung nach der Dublin-III-Verordnung (Dublin-III-VO) für unionsrechtlich möglich, wenn die betroffenen EU-Mitgliedstaaten die einschlägigen Fristen zur Klärung der Zuständigkeit versäumt haben (Az. C-670/16).
In diesem vor dem EuGH noch zu verhandelnden Verfahren geht es insbesondere darum, ob Schutzsuchende Rechte aus Fristenregeln der Dublin-III-VO (Nr. 604/2013) haben, die eigentlich für die Feststellung der Zuständigkeit zwischen Mitgliedstaaten relevant sind, und ob diese Rechte dann vor nationalen Gerichten eingeklagt werden können. Weiterhin muss geklärt werden, wann ein Antrag auf internationalen Schutz als formell korrekt gestellt gilt, da ab diesem Zeitpunkt die Fristenregelungen der Dublin-III-VO zu laufen beginnen.
Das VG Minden legt vor
Grundlage des Verfahrens vor dem Gerichtshof ist eine Vorlage des Verwaltungsgerichts (VG) Minden (Az. 10 K 5476/16.A). Dort ist die Klage eines eritreischen Staatsangehörigen anhängig, der von Libyen aus über das Mittelmeer am 4. September 2015 erstmals in Italien in das Unionsgebiet einreiste und danach auf dem Landweg am 12. September 2015 in Deutschland ankam und um Asyl ersuchte. Zunächst stellten die deutschen Behörden dem Antragsteller am 14. September 2015 auf sein formloses Asylgesuch eine Bescheinigung aus. Erst Monate später, am 22. Juli 2016, konnte der Schutzsuchende beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz stellen.
Die am 19. August 2016 durchgeführte Eurodac-Anfrage ergab, dass dem nun vor dem VG Minden klagende Mann in Italien Fingerabdrücke abgenommen wurden, er dort aber keinen Asylantrag gestellt hatte. Das noch am selben Tag an die italienischen Behörden gerichtete Aufnahmegesuch Deutschlands blieb unbeantwortet. Das BAMF sah darin gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO eine implizite Stattgabe Italiens zum Aufnahmegesuch aus Deutschland. Es lehnte daraufhin mit Bescheid vom 10. November 2016 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an, denn Italien sei nach den Bestimmungen der Dublin-III-VO für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers zuständig.
Die hiergegen am folgenden Tag vom Antragsteller eingereichte Klage veranlasste das VG Minden gemäß Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um eine Vorabentscheidung des EuGH im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu ersuchen. Es wurden insgesamt acht Vorlagefragen formuliert, deren vollständige Beantwortung sich aus der bisher vorliegenden Pressemitteilung noch nicht ergibt.
Sharpston hat nach dem bisher bekannten Inhalt der Schlussanträge allerdings klargestellt, dass ihrer Ansicht nach dem einzelnen Schutzsuchenden aus der Dublin-III-VO unmittelbar Rechte zustehen, die sich auf die Zuständigkeit des Mitgliedstaates auswirken, der den Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen hat.
2/2: Wie Zuständigkeiten und Fristen geregelt sind
Grundsätzlich bleiben dem Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, gemäß Art. 21 Dublin-III-VO drei Monate Zeit, um die Zuständigkeit zu klären. Liegt gar – wie im hiesigen Fall – eine Eurodac-Treffermeldung vor, muss die Zuständigkeit innerhalb von zwei Monaten geklärt werden. Diese Fristen können nicht addiert oder aufgerechnet werden, wie die Generalanwältin klarstellt. Verstreichen diese Fristen ohne Aktion, bleibt der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Schutzsuchende sich nach Antragstellung gerade befindet. Für den Beginn der Zweimonatsfrist ist damit der gemeldete Eurodac-Treffer am 19. August 2016 maßgeblich.
Die möglichst schnelle Klärung der Zuständigkeit ist aus der Sicht des Flüchtlingsrechts zur hinreichenden Gewährung von Schutz sehr wichtig. So war das Dublin System ursprünglich etabliert worden, um sogenannte "refugees in orbit" zu verhindern, also Schutzsuchende, für die sich kein Staat zuständig fühlt. Ein mehrjähriger Streit darüber, welcher Staat denn nun für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, sollte durch das Dublin-System gerade vermieden werden. Daher verlangen die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin-III-VO ausdrücklich, dass es klare und praktikable Regelungen geben muss, die eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats anhand gerechter Kriterien ermöglichen.
Sharpston betont in ihren Schlussanträgen die zentrale Bedeutung der in der Dublin-III-VO vorgesehenen Fristen für die Rechte der Schutzsuchenden. Die Verordnung sei kein rein zwischenstaatlicher Mechanismus mehr und die Anwendung von Fristen habe erhebliche Auswirkungen für die Antragsteller und die betreffenden Mitgliedstaaten, so die Generalanwältin weiter. Die Überstellung beziehungsweise Abschiebung eines Antragstellers von einem Mitgliedstaat in den anderen per Überstellungsentscheidung müsse daher von nationalen Gerichten kontrolliert werden können.
EuGH hat Rechten Einzelner schon früher Rechnung getragen
Denn auch wenn Art. 21 Dublin-III-VO "nur" Zuständigkeitsfragen beziehungsweise Aufnahmepflichten der Mitgliedstaaten behandele und einer schutzsuchenden Person in dieser Norm nicht ausdrücklich Rechte zugestanden würden, seien dessen Rechte gleichwohl betroffen, so die Generalanwältin.
Dies entspricht dem schon sehr früh geäußerten Verständnis des Gerichtshofs zur Frage der Rechte Einzelner, die sich im Europarecht nicht nur aus ausdrücklich zugestandenen subjektiven Rechten ergeben, sondern daraus, inwieweit sie von den Handlungen der europäischen Akteure betroffen sind. In diesem Sinne hatte der EuGH schon sehr früh festgestellt, dass die europäischen Verträge durchaus Rechte für Einzelne etablieren und nicht nur Rechtsbeziehungen zwischen Staaten schaffen.
Hinsichtlich der weiteren Vorlagefrage, wann ein Antrag auf internationalen Schutz als gestellt gilt, stellt Sharpston fest, dass ein solcher Antrag im Sinne der Verordnung zu dem Zeitpunkt als gestellt anzusehen sei, zu dem den zuständigen Behörden ein Formblatt oder ein Protokoll zugehe. Die genaue Gestalt des Formblatts oder Protokolls sei Sache der Mitgliedstaaten, da es kein Standardformblatt dazu gebe. Ein informelles Gesuch bei Einreise oder eine bestätigende Bescheinigung durch den Mitgliedstaat reicht nach Ansicht der Generalanwältin hingegen nicht aus. Daher sei der hier maßgeblich Zeitpunkt der Antragstellung der 22. Juli 2016 und das Aufnahmegesuch vom BAMF in Richtung Italien habe die in der Verordnung festgelegten Fristen gewahrt.
Folgt der EuGH der Auffassung der Generalanwältin, stärkt dies die allgemeinen Rechte der Antragsteller auf internationalen Schutz immens. Dem klagenden Eritreer im vorliegenden Fall würde es allerdings nichts nützen: Die angefochtene Entscheidung bleibe voraussichtlich unberührt, weil die Fristen danach nicht versäumt wurden.
Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Öffentliches Recht der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Timo Tohidipur, Schlussanträge vor dem EuGH: Dublin-III-VO gewährt Asylbewerbern Rechte . In: Legal Tribune Online, 21.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23238/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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