Polen und Ungarn verlieren vorm EuGH: So kann die EU-Kom­mis­sion jetzt Gelder kürzen

Gastbeitrag von Dr. Malte Symann

16.02.2022

Der EuGH hat die Klagen Polens und Ungarns gegen die Konditionalitätsverordnung abgewiesen. Damit ist der Weg frei für finanzielle Sanktionen. Malte Symann erklärt, was die EU-Kommission nun tun kann und welche Fehler sie vermeiden sollte.

Es ist eine Entscheidung, die ernsthafte finanzielle Folgen haben kann – für EU-Mitgliedstaaten, die fundamentale Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit missachten. Neben Ungarn und Polen könnten künftig auch andere Mitgliedstaaten betroffen sein. 

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union (VO 2020/2092, kurz: Konditionalitätsverordnung) für mit dem Unionsrecht vereinbar erklärt (Urt. v. 16.02.2022, Az. C-156/21 und C-157/21). Die EU verfüge über die entsprechende Kompetenz zum Erlass einer solchen Verordnung, erklärten die Richterinnen und Richter. Die neue Konditionalitätsverordnung sei auch komplementär zu bestehenden Sanktionsmechanismen und die Anforderungen an die Mitgliedstaaten bestimmt genug.  

Der EuGH hat daher die Klagen Polens und Ungarns gegen diese Verordnung nun endgültig abgewiesen und folgte damit den Schlussanträgen des Generalanwalts Campos Sánchez Bordana.  

Solidarität nur bei Rechtsstaatlichkeit  

Um den Boden für seine Argumentation zu bereiten wird der EuGH in diesem Urteil an verschiedenen Stellen grundsätzlich: Das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten – das letztlich Grundlage für die europäische Zusammenarbeit ist – gründe sich darauf, dass diese alle die gemeinsamen Werte der EU achten. Diese in Art. 2 EUV niedergelegten Werte geben der EU als Rechtsgemeinschaft „ihr Gepräge“. Die Achtung der gemeinsamen Werte durch die Mitgliedstaaten sei auch Voraussetzung dafür, dass diese in den Genuss der Vorzüge der EU kommen können. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten müsse es der EU daher auch möglich sein, ihre Werte zu verteidigen.  

Zu diesen Werten zählt, wie der EuGH bereits mehrfach betont hat, die Rechtsstaatlichkeit. Der EuGH verweist in diesem Urteil aber auch ausdrücklich auf die Solidarität als einen Wert der EU und schlägt somit die Brücke zwischen Rechtsstaatlichkeit und Haushaltsrecht: Denn die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten drückt sich unter anderem im europäischen Haushalt aus – mit diesem werden ja bekanntlich große Summen in den Mitgliedstaaten investiert und damit mehr oder minder „solidarisch“ zwischen den Mitgliedstaaten umverteilt. Die Umsetzung des EU-Haushalts – und damit letztlich die Solidarität unter den Mitgliedstaaten – dürfe nicht durch Rechtsstaatsverstöße beeinträchtigt werden.  

Das Haushaltsrecht als scharfes Schwert  

Genau diesen Schutz des EU-Haushalts bezweckt die neue Konditionalitätsverordnung als Teil des europäischen Haushaltsrechts. In Art. 322 Abs. 1 lit. a) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) liegt somit sowohl Kompetenzgrundlage als auch -grenze: Sofern der Haushalt der EU betroffen ist, darf diese rechtsstaatliche Grundsätze zur Bedingung für die Auszahlung machen. Denn diese Bedingungen dienen dem Schutz des Haushalts der EU und sind conditio sine qua non für eine ordnungsgemäße Ausführung des EU-Haushalts.  

Soweit der Haushalt der EU allerdings nicht betroffen ist – was beispielsweisebei einer Einschränkung der Demonstrationsfreiheit der Fall sein könnte – kann die EU hingegen nicht auf die Konditionalitätsverordnung zurückgreifen. Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit „als solche“ können nämlich nicht nach der neuen Verordnung geahndet werden. Hierfür bleiben nur andere Sanktionsmechanismen, etwa das Vertragsverletzungsverfahren oder das Verfahren nach Art. 7 EUV.  

Trotz dieser Beschränkung auf haushaltsrelevante Bereiche kann die neue Verordnung eine starke Wirkung entfalten: Die unionalen Programme sind mittlerweile so vielfältig, dass sehr viele – wenn nicht fast alle – mitgliedstaatlichen Behörden in der ein oder anderen Weise an der Umsetzung des EU-Haushalts mitwirken bzw. dessen Umsetzung überwachen. Sie alle müssen nun diese rechtsstaatlichen Bedingungen erfüllen, jedenfalls soweit sie mit den europäischen Haushaltsaufgaben befasst sind.  

Der EuGH weist auch den Vorwurf Polens und Ungarns, dass mit der neuen Verordnung etablierte Sanktionsmechanismen umgangen würden, zurück. Die Kläger hatten hierbei vor allem das Verfahren nach Art. 7 EUV im Blick: Dieses Verfahren soll es dem Rat ermöglichen, schwerwiegende und anhaltende Verletzungen gemeinsamer Grundwerte zu ahnden. Hierfür sind schwere Sanktionen bis hin zum Stimmrechtsentzug für den betroffenen Mitgliedstaat möglich, es gibt jedoch hohe verfahrensrechtliche Hürden. Und diese erlauben es Polen und Ungarn sich gegenseitig in den bereits gegen sie laufenden Art. 7-Verfahren zu schützen.  

In seinem Urteil verweist der EuGH auf das hiervon zu unterscheidende Regelungsziel der Konditionalitätsverordnung: Denn diese dient allein dem Schutz des EU-Haushalts und nicht allgemein der Ahndung schwerwiegender Verletzungen europäischer Grundwerte. Somit sind beide Sanktionsmechanismen komplementär. Für die EU ist das auch besonders wichtig: Denn mit der neuen Verordnung soll ihr eine zusätzliche Möglichkeit in die Hand gegeben werden, auf Verstöße der Mitgliedstaaten gegen Unionsrecht zu reagieren. Nur ein Werkzeugkasten mit verschiedenen Instrumenten erlaubt ihr eine schnelle und dem jeweiligen Verstoß angemessene Reaktion. 

EuGH: Rechtsstaatlichkeit ist konkretisiert 

Auch dem von Polen und Ungarn vorgebrachten Argument, die von den Mitgliedstaaten nun zu erfüllenden Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit seien nicht klar genug definiert, folgt der EuGH nicht. Die Richterinnen und Richter betonen, der EuGH habe den Begriff der Rechtsstaatlichkeit und seine Bestandteile in seiner Rechtsprechung umfangreich konkretisiert. Hierunter lässt sich eine ganze Reihe von Entscheidungen des EuGHs fassen, von der richterlichen Unabhängigkeit (etwa Urt. v. 5.11.2019, Az. C-192/18, und Urt. v. 24.06.2019, Az. C-619/18) bis zum Willkürverbot (Urt. v. 16.05.2017, Az. C-682/15).  

Zudem verweist der EuGH darauf, dass dieser Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit seinen Ursprung in den gemeinsamen Werten und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat. Nach Ansicht des EuGHs teilen die Mitgliedstaaten (man möchte mit Blick auf einige Mitgliedstaaten anfügen: leider nicht ausnahmslos) ein gemeinsames Verständnis der Rechtsstaatlichkeit. Auch im Übrigen genüge die Verordnung den Anforderungen an die Rechtssicherheit und -klarheit. So legt sie auch strenge Verfahrenserfordernisse fest, die dem betroffenen Mitgliedstaat mehrfach die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. 

Druck auf die Kommission steigt  

Mit diesem Urteil steigt der Druck auf die Kommission, finanzielle Sanktionen insbesondere gegen Ungarn und Polen auf den Weg zu bringen. Denn bisher hielt sich die Kommission an ihre – rechtlich nicht bindende – Verständigung mit dem Europäischen Rat, diese neue Verordnung erst dann einzusetzen, wenn der EuGH über dessen Vereinbarkeit entschieden hat. Mit dem heutigen Urteil ist es nun soweit und die Kommission muss Farbe bekennen. Damit würde sie auch dem Europäischen Parlament, das die Kommission bereits wegen Untätigkeit verklagt hat, den Wind aus den Segeln nehmen. 

Die Kommission hat entsprechende Verfahren auch schon vorbereitet, dem Vernehmen nach vor allem gegen Ungarn und Polen. In ihren ersten Verfahren dürfte die Kommission aber mit Recht besonders gründlich vorgehen – und deshalb von außen betrachtet möglicherweise nicht schnell genug. Denn sollten die ersten finanziellen Sanktionen nach der neuen Verordnung vom EuGH wieder kassiert werden, wäre der politische Schaden enorm.  

Die betroffenen Mitgliedstaaten werden die Sanktionsmaßnahmen angreifen 

Die Auseinandersetzung um die Konditionalitätsverordnung wird sich nun also verlagern: Die betroffenen Mitgliedstaaten werden die konkreten Sanktionsmaßnahmen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln politisch und juristisch angreifen. Das betrifft insbesondere die Fragen, wie die rechtsstaatlichen Grundsätze konkret ausgestaltet sind und ob der betroffene Mitgliedstaat diese auch tatsächlich nicht einhält. Darüber hinaus wird auch die Verhältnismäßigkeit der verhängten finanziellen Sanktionen Gegenstand von Diskussionen werden.  

Für diese Frage der Höhe künftiger finanzieller Sanktionen sind die beiden derzeit gegen Polen verhängten finanziellen Sanktionen interessant: Schon im Oktober 2021 verhängte der EuGH ein Zwangsgeld von 1 Millionen Euro täglich solange die umstrittene Disziplinarkammer für Richterinnen und Richter weiterarbeitet.  

Daneben verurteilte der EuGH Polen im September 2021 wegen des unionsrechtswidrigen Betriebs eines Braunkohletagebaus in der Nähe zu Tschechien zu einem Zwangsgeld in Höhe von 500.000 Euro. Da sich Polen weigert, diese Strafen zu begleichen, treibt die Kommission diese nun erstmals durch eine Kürzung der Zahlungen aus dem EU-Haushalt bei. Das zeigt, dass die EU mittlerweile recht empfindliche finanzielle Sanktionen für Unionsrechtsverstöße verhängt und bei der Durchsetzung dieser Sanktionen auch resoluter vorgeht als früher.  

Erste Anzeichen für Kompromissbereitschaft?  

Die aktuellen Debatten um den Wiederaufbaufonds zeigen, dass finanzielle Sanktionen ein wichtiges zusätzliches Instrument sein können: Bisher hat die Kommission diese Gelder für Polen und Ungarn trotz entsprechenden politischen Drucks auch mit Verweis auf die rechtsstaatliche Lage nicht freigegeben.  

In Polen gibt es nun erste Anzeichen für Kompromissbereitschaft im Regierungslager: Im Dezember hat polnische Präsident Andrzej Duda sein Veto gegen ein umstrittenes Mediengesetz eingelegt – insoweit reagierte er wohl nicht nur auf Druck der polnischen Zivilbevölkerung, sondern auch aus der EU und den USA.  

Im Februar hat Duda nun zudem einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Disziplinarkammer für Richterinnen und Richter vorgelegt. Insoweit verwies er ausdrücklich darauf, dass dies zur Auszahlung der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds beitragen soll.  

Rechtsstaatswidrige Zustände nicht nur formal rückgängig machen 

Ob die Kompromissbereitschaft insbesondere Polens und Ungarns mit dem heutigen Urteil aber auch tatsächlich steigt, wird sich noch zeigen müssen.  

So geht es beispielsweise bei der polnischen Disziplinarkammer nicht nur um die Frage, ob sie für die Zukunft seine Arbeit einstellt, sondern auch, ob von ihr disziplinierte Richterinnen und Richter wieder auf ihre alten Stellen zurückkehren können. Insoweit müssen auch frühere Erfahrungen berücksichtigt werden: Nach einer Gerichtsreform in Ungarn waren viele Richterinnen und Richter ihres Amtes enthoben worden. Zwar wurde diese Gerichtsreform nach einem entsprechenden Urteil des EuGH im Jahr 2012 rückgängig gemacht. De facto kehrten die meisten betroffenen Richterinnen und Richter aber nicht auf ihre vorherigen Stellen zurück, sondern erhielten Schadensersatz nach nationalem Arbeitsrecht oder konnten nur auf niedrigeren Positionen wieder im Justizdienst tätig werden.  

Solche Szenarien, bei denen rechtsstaatswidrige Zustände de jure aber womöglich nicht de facto rückgängig gemacht werden, wird die EU künftig verhindern müssen. Andernfalls wird sie ihren eigenen Ansprüchen und den berechtigten Erwartungen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger nicht gerecht.  

Dr. Malte Symann ist Rechtsanwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer, promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema "Schutz der Rechtsstaatlichkeit durch europäisches Haushaltsrecht" und wurde vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) als Sachverständiger in Rechtsstaatsfragen berufen.  

Zitiervorschlag

Polen und Ungarn verlieren vorm EuGH: . In: Legal Tribune Online, 16.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47563 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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