Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein – aber Interpol sucht weiter nach dem Mann. Nun sagt der EuGH: In solchen Fällen muss es einen Rechtsbehelf geben, um feststellen zu lassen, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift.
Würden Sie verreisen, wenn eine Interpol Red Notice gegen Sie vorliegt? Vermutlich nicht, denn sehr wahrscheinlich würde man Sie am Flughafen oder im Transitbereich erstmal festnehmen. Mit einer Red Notice kann ein Staat die übrigen Interpol-Mitglieder auffordern, eine gesuchte Person festzunehmen und eine Auslieferung zu prüfen.
So zum Beispiel im Fall einer Italienerin, die am Flughafen in Frankfurt am Main festgenommen wurde. Die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden warfen ihr bandenmäßiger Kunstfälschungsbetrug vor. Allerdings: Die Frau war bereits in Italien wegen genau derselben Taten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main erklärte die Auslieferung deshalb für unzulässig. Und zwar weil das Verbot der Doppelbestrafung für alle Unionsbürger gelten müsse.
Bis das geklärt war, vergingen allerdings rund vier Monate, solange saß die Frau in Frankfurt in Haft. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte nun über eine Vorlage in einem ähnlichen Fall zu entscheiden – nur ging es hier um einen mittlerweile 83-jährigen Deutschen, der genau dieses Risiko nicht eingehen wollte und lieber zu Hause blieb. Die Luxemburger Richter haben eine Grundsatzentscheidung gefällt, die das Interpol-Verfahren verändern könnte, aber zunächst vor allem viele Fragen aufwirft. Denn der EuGH verlangt nun, dass es auch für solche Fälle einen Rechtsbehelf geben muss – und den gibt es, zumindest in Deutschland, bisher nicht (EuGH, Urt. v. 12.05.2021, Rs: C-505/19).
Erst festnehmen, dann prüfen – das ist grundsätzlich zulässig
Der 83-jährige Deutsche wird seit 2012 mit einer Red Notice von den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden gesucht, es geht um Bestechungsvorwürfe. Die Staatsanwaltschaft München I ermittelte ebenfalls, stellte das Verfahren aber Anfang des Jahres 2010 gemäß § 153a Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) gegen Zahlung einer Geldauflage ein. Drei Jahre später erklärte sich Interpol bereit, der Red Notice einen Hinweis hinzuzufügen, in dem es heißt, das Bundeskriminalamt (BKA) gehe davon aus, dass wegen des vorausgegangenen Verfahrens das Verbot der Doppelbestrafung greife.
Dennoch musste der Mann in einem der anderen 189 Interpol-Staaten, auch in den Mitgliedstaaten der EU, mit seiner Festnahme rechnen. Denn trotz des Hinweises des BKA steht er weiterhin auf der Fahndungsliste. Er wandte sich deshalb an das Verwaltungsgericht (VG) Wiesbaden und verlangte, das BKA als Nationales Zentralbüro für Interpol müsse Maßnahmen ergreifen, um die Red Notice löschen zu lassen. Die Gefahr festgenommen zu werden, beschränke ihn in seinem Freizügigkeitsrecht.
Das VG Wiesbaden legte daraufhin dem EuGH Fragen zur Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung vor, insbesondere zur vorläufigen Festnahme bei einer Red Notice. Die sei grundsätzlich zulässig, so der EuGH. Es sei denn, es wurde rechtskräftig gerichtlich festgestellt, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. Und, so die Luxemburger Richterinnen und Richter: Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, mit denen die betroffenen Personen eine solche rechtskräftige gerichtliche Entscheidung erwirken können.
Deutschland muss jetzt einen Rechtsbehelf schaffen
Den 83-Jährigen, der auf Urlaubsreise gehen möchte, dürfte das etwas ratlos zurücklassen. Denn bisher gibt es schlicht kein Gericht, an das er sich wenden kann. Einen solchen Rechtsbehelf muss Deutschland erst noch schaffen.
"Der Fall ist Neuland und es wird spannend, wie die Mitgliedstaaten und wie Interpol darauf reagieren werden", so der Rechtsanwalt Dr. Björn Kruse, der die Italienerin vor dem OLG Frankfurt vertreten hat. Zumindest in solchen Fällen, in denen schon absehbar ist, dass auch in einem Drittstaat ermittelt wird, sei die Entscheidung des EuGH hilfreich und könne zu mehr Rechtssicherheit beitragen. "Es kann aber auch sein, dass gar nicht absehbar ist, dass ein Drittstaat ein Fahndungsersuchen ausstellen wird, manchmal kommt es ja sogar erst Jahre später zu einer Strafverfolgung wegen derselben Tat – in diesen Fällen wird die Unsicherheit bestehen bleiben."
Auch bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle, die die Arbeit der deutschen Generalstaatsanwaltschaften im europäischen Rahmen koordiniert, heißt es, es sei unklar, wie ein solcher Rechtsbehelf aussehen könne. Richtig sei aber, dass der EuGH die vorläufige Festnahme zulässt, solange es keine gerichtliche Entscheidung zum Verbot der Doppelbestrafung gibt. "Die Generalstaatsanwaltschaften und Oberlandesgerichte müssen zunächst prüfen, ob es sich tatsächlich um genau dieselben Taten handelt und ob wirklich das Verbot der Doppelbestrafung greift. Diese Prüfung braucht Zeit, deshalb wird der Verdächtige bei einer Red Notice zunächst vorläufig festgenommen, bis geklärt ist, ob die Auslieferung zulässig ist oder eben nicht."
Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums (BMJV) teilte gegenüber LTO mit, man werde das Urteil und seine Auswirkungen genau prüfen und mit der portugiesischen Ratspräsidentschaft und insgesamt auf EU-Ebene über Handlungsbedarf beraten, da viele Mitgliedstaaten betroffen seien. Einen Rechtsbehelf, um den Strafklageverbrauch feststellen zu lassen, gebe es bisher nicht.
Das wird sich aber nach dieser Entscheidung in absehbarer Zeit ändern müssen.
EuGH zu Interpol Red Notice: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44955 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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