EU-Streit über Umgang mit "Flüchtlingen": Das verschleierte Problem der Wirtschaftsmigration

Julia Schieber

12.04.2011

Die Ströme an Einwanderern aus den nordafrikanischen Krisengebieten nach Europa reißen nicht ab. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström will sie nun über die europäische Richtlinie für die Gewährung von vorübergehendem Schutz an Vertriebene in den Griff bekommen. Warum das kaum helfen wird und an den eigentlichen Problemen vorbeigeht, erklärt Julia Schieber.

Täglich erreichen neue Boote aus Nordafrika die Küsten Europas. Nach offiziellen Angaben halten sich mittlerweile mehr als 20.000 Einwanderer, "hauptsächlich aus Tunesien", in der EU auf; sie seien größtenteils mit Booten an den Küsten Italiens und Maltas gelandet.

Unterdessen wird der Ton zwischen den Regierungen der EU-Staaten schärfer. Die italienische Regierung droht mit der Ausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen, um den Einwanderern die Durchreise in andere EU-Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Der deutsche Bundesinnenminister Friedrich kontert, Italien zwinge damit die Mitgliedstaaten zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen.

Zur Deeskalation des Konflikts hat EU-Innenkommissarin Malmström nun vorgeschlagen, die Richtlinie 2001/55/EG über die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen anzuwenden. Dadurch soll die Verteilung der Einwanderer auf die EU-Mitgliedstaaten koordiniert werden. Tatsächlich wird die Regelung kaum zur Lösung des Problems beitragen können.

Einsatz der Vertriebenen-Richtlinie wäre europäische Premiere

Die Richtlinie wurde 2001 als Reaktion auf den Massenzustrom von Schutzsuchenden aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien verabschiedet. Die Balkankriege hatten in den 1990er Jahren zu einem massiven Anstieg der Asylbewerberzahlen in den westeuropäischen Staaten geführt und die Mitgliedstaaten zum Teil an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten gebracht. In Deutschland erreichte die Zahl der Asylanträge 1992 mit knapp einer halben Million einen historischen Höchststand.

Vor diesem Hintergrund soll die Richtlinie im Sinne einer europäischen Lastenverteilung einen Mechanismus schaffen, um Flüchtlinge und andere Vertriebene ausgewogen auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Voraussetzung  für ihre Anwendung ist ein Beschluss des Rates, durch den festgestellt wird, dass ein "Massenzustrom" vorliegt. Zudem muss er den Kreis der Personen festlegen, der durch die Anwendung der Richtlinie begünstigt werden soll. Trifft der Rat einen solchen Beschluss, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die dadurch begünstigten Personen aufzunehmen.

Der Einsatz der Richtlinie in der aktuellen Situation der Zuströme aus Nordafrika wäre eine europäische Premiere. Seit ihrer Verabschiedung vor knapp zehn Jahren ist sie mangels eines entsprechenden Ratsbeschlusses kein einziges Mal herangezogen worden. Allerdings ist völlig unklar, wie sich Malmström die Anwendung der Regelung auf tunesische Einwanderer vorstellt. Zwar spricht nichts dagegen, das Bestehen eines Massenzustroms festzustellen. Ddie Richtlinie gilt aber grundsätzlich nur für Vertriebe.

Schlüssige EU-Konzepte für Umgang mit Dritte-Welt-Ländern fehlen

Als "Vertriebene" definiert die Richtlinie Personen, die ihr Herkunftsland verlassen mussten und in dieses wegen der dort bestehenden Lage nicht zurückkehren können. Dazu zählen etwa Personen, die vor bewaffneten Konflikten fliehen oder die Opfer von systematischen Menschenrechtsverletzungen sind.

Die meisten tunesischen Einwanderer, die momentan Europas Küsten erreichen, gelten jedoch als so genannte Wirtschaftsmigranten. Anders als beispielsweise Personen aus Eritrea oder Somalia werden sie in ihrem Herkunftsland nicht politisch verfolgt und fliehen nicht vor einem bewaffneten Konflikt oder Menschenrechtsverletzungen. In Europa suchen sie nicht internationalen Schutz, sondern Arbeit und eine bessere Zukunftsperspektive.

Der Anwendungsbereich der Richtlinie ist jedoch explizit auf Schutzsuchende beschränkt. Undenkbar ist vor diesem Hintergrund, dass die europäischen Regierungen einem Beschluss zustimmen würden, durch den tunesische Staatsangehörige, die auf der Suche nach Arbeit und besseren Zukunftschancen sind, als Vertriebene bezeichnet werden. Dies wäre im Übrigen auch nicht wünschenswert. Hierdurch würden nämlich die Schutzkapazitäten und die Aufnahmewilligkeit der europäischen Staaten zu Lasten solcher Personen in Anspruch genommen, die tatsächlich auf der Flucht vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen sind.

So lange die EU keine nachhaltigen Versuche unternimmt, die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Fluchtländern zu verbessern und die EU-Subventionspolitik noch zur Verschärfung der Unterschiede beiträgt, so lange werden Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Europa kommen. Für sie fehlt es bislang an einem schlüssigen Konzept der EU.

Arbeitssuchende als Flüchtlinge oder Vertriebene zu qualifizieren und durch völlig aussichtslose Initiativen zu suggerieren, dass Europa bereits rechtliche Lösungen für das Problem bereit halte, hilft indes niemandem. Dadurch wird der Blick auf den tatsächlichen Kern des Problems verschleiert: Eine fehlende Entwicklungs- und Kooperationsperspektive mit den Ländern der so genannten Dritten Welt.

Julia Schieber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum für internationales europäisches Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz.

 

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Zitiervorschlag

EU-Streit über Umgang mit "Flüchtlingen": . In: Legal Tribune Online, 12.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3013 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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