Die neue EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen nimmt ihre Arbeit auf. Wenn es um rechtsstaatliche Standards in den EU-Ländern geht, dürfe man ihre Rolle aber nicht überschätzen, so Christoph Möllers.
LTO: Herr Professor Möllers, von der neuen EU-Kommission und der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird erwartet, dass sie Rechtsstaatlichkeit in der EU – ja, was denn am besten –bewahrt, durchsetzt, wiederherstellt?
Professor Dr. Christoph Möllers: Naja, die Kommission hat ja nur begrenzte Möglichkeiten, auf die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten einzuwirken. Erwarten kann man aber, dass sie Probleme benennt und klarmacht, was ihre Position ist.
Es wird künftig zwei Kommissare geben, die für Rechtsstaatlichkeit in der EU zuständig sind: Vize-Präsidentin Vera Jourova aus Tschechien, die sich um Transparenz und die europäischen Werte kümmern soll und Justizkommissar Didier Reynders aus Belgien. Was erwarten Sie von den beiden?
Jourova war schon in den letzten Jahren beeindruckend. Tschechien gehört zur Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Anm. d. Red.), die ja der europäischen Kommission durchaus kritisch gegenübersteht, aber Jourova hat große Unabhängigkeit gezeigt und sich durchaus für Rechtstaatlichkeit eingesetzt. Wie sich nun die Zusammenarbeit mit Reynders entwickelt, muss man abwarten. Dass sich zwei Kommissare mit Rechtsstaatlichkeits-Fragen befassen sollen, kann sinnvoll sein – es kann aber auch sein, dass sie sich gegenseitig in die Parade fahren. Aber ich glaube, dass man die Rolle der Kommission insgesamt nicht überschätzen sollte. Letztlich haben wir es mit einem politischen Konflikt zu tun, in dem vor allem die Mitgliedstaaten eine starke Haltung zeigen müssen.
Sie leiten das Projekt re:constitution am Forum für Transregionale Studien in Berlin, das sich mit Rechtsstaatlichkeit in der EU befasst. Die Auftaktveranstaltung Ihres Projekts hatte den Titel "One Rule of Law for All EU Member States or Twenty-Eight Different Shades?" Wie viele Rechtsstaatlichkeiten gibt es in der EU?
Es gibt jedenfalls viele verschiedene Traditionen, die für die Rechtsstaatlichkeit von Bedeutung sind. Wie werden Richter ernannt? Was bedeutet Gesetzesbindung? Was bedeutet Rückwirkung von Regeln? Wir müssen uns also erstmal klar machen, dass es keinen Konsens gibt und dass wir auch keinen einheitlichen quasi wissenschaftlichen Begriff von Rechtsstaatlichkeit haben. Gerade vor dem Hintergrund, dass es problematische Entwicklungen gibt, müssen wir aber klären, wo wir Probleme sehen und wo wir offen sein sollten für eine Diversität von Rechtsstaatlichkeit. Deshalb geht es in dem Projekt auch nicht darum, irgendwem beizubringen, wie Rechtsstaatlichkeit denn nun wirklich funktioniert. Sondern es geht darum, Wissenschaftler aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten in andere EU-Länder zu schicken, damit sie sich anschauen können, wie Rechtsstaatlichkeit dort funktioniert – oder eben auch nicht funktioniert.
"Typischerweise zunächst Eingriffe in die Gerichtsbarkeit"
Wenn es nicht funktioniert: Woran zeigt sich zuerst, dass Rechtsstaatlichkeit in Gefahr gerät?
Typischerweise geht es zunächst um Eingriffe in die Gerichtsbarkeit. Nicht jeder dieser Eingriffe ist allerdings gleich ein Indiz für ein rechtsstaatliches Problem. Aber wenn Eingriffe untypisch sind, wenn sozusagen in den laufenden Betrieb eingegriffen wird, in die Art, wie Verfahren geführt werden oder wenn das Personal ausgetauscht wird – dann muss man zumindest genauer hinsehen.
In den letzten Jahren haben wir etwa in Polen und Ungarn gesehen, dass Richter zwangsweise pensioniert werden sollten, dass man Richterwahlen im Nachhinein in Zweifel gezogen hat, dass praktisch eine neue Gerichtsbarkeit geschaffen werden sollte. Problematisch ist das, wenn es keine Konflikte mehr zwischen der Gerichtsbarkeit und den politischen Organen geben kann. Sehr problematisch wird es, wenn wir keine Pluralitätsgarantien für die Richterernennung haben. Die richterliche Unabhängigkeit hat eben auch viel damit zu tun, dass es kein zu starkes politisches Monopol bei der Ernennung von Richtern gibt.
Es ist also schon ziemlich viel Aufwand, überhaupt festzustellen, was Rechtsstaatlichkeit eigentlich ist und inwiefern sie in Gefahr gerät. Ist das eine Aufgabe, die die EU übernehmen kann? Etwa mit dem "Grundwerte-Check-up" – also einer Art Monitoring, an dem die EU-Mitglieder freiwillig teilnehmen können?
Mich überzeugt das nicht. Monitoring ist eigentlich eine typische Aufgabe von Sekretariaten internationaler Organisationen. In gewisser Weise ist das unter dem Niveau der EU, die ja bereits eine quasi-föderale Organisation ist, jedenfalls ein starker Staatenbund. Ich glaube, die Lösung liegt doch eher bei den Mitgliedstaaten. Die haben sich in den letzten Jahren zu sehr rausgehalten. Der Rat und die Staats- und Regierungschefs im Europäische Rat haben sich zu Rechtsstaatlichkeitsfragen kaum verhalten. So liegt das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen derzeit auf Eis und keiner kümmert sich drum. Es gehört offenbar immer noch zum guten Ton zwischen Regierungschefs, nicht über die konstitutionellen Angelegenheiten der Mitgliedstaaten zu reden. Das ist aber nicht der Stand der europäischen Integration. Da verkennen die Staats- und Regierungschefs auch ihre Pflichten aus den Verträgen.
"Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit im Kern ein politisches Problem"
Welche Rolle spielt der Europäische Gerichtshof (EuGH)?
In letzter Zeit gab es einige wichtige Entscheidungen, etwa zur vorzeitigen Pensionierung von Richtern in Polen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der EuGH diese Probleme dauerhaft lösen kann. Jedes Gericht verfolgt auch gewisse Eigeninteressen und der EuGH steht in Konkurrenz zu den nationalen Verfassungsgerichten. Was ich aber sehr wichtig finde ist, dass die Verfassungsgerichte sich zunehmend auch untereinander vernetzen.
Sie würden also sagen: Vor allem müssen die Mitgliedstaaten mehr politischen Druck aufbauen?
Ja, Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit sind im Kern ein politisches Problem.
Wie werden die von Ihnen geschilderten Probleme bei uns von der Justiz reflektiert? Haben Sie den Eindruck, dass deutsche Juristen wissen, wie schnell Rechtsstaatlichkeit in Gefahr geraten kann?
Ich bin da sehr skeptisch. Man redet natürlich lieber über Polen als über die Situation hier. Viele Richter und Justizbeamte glauben, solche Eingriffe in das Justizsystem könnten hier nicht passieren. Auch in der Juristenausbildung geht es überhaupt nicht darum, aus Richtern etwas anderes zu machen als reine Rechtsanwender – wir müssten viel mehr über den politischen Kontext juristischer Entscheidungen sprechen.
Inzwischen wird zunehmend eine Debatte darüber geführt, ob es Reformen braucht, um das Grundgesetz abzusichern. Sehen Sie Handlungsbedarf?
Ein massives Problem ist die Größe des Bundestags. Deshalb ist eine Wahlrechtsreform längst überfällig. Ein Bundestag mit künftig womöglich mehr als 800 Abgeordneten ist wirklich nicht mehr zu vermitteln, er wird dysfunktional und zelebriert eigentlich seinen eigenen Zerfall. Das ist sehr, sehr bedenklich.
Ein anderes Problem ist unser Bundesstaat. In den letzten fünf bis zehn Jahren gab es eine so starke Zentralisierung, gerade was die Finanzen angeht, dass die meisten Länder mehr und mehr vom Bund abhängig werden. Das war falsch. Die wirksamste Lebensversicherung für eine demokratisch-rechtstaatliche Vielfalt ist der Föderalismus – da kann man politische Gegengewichte schaffen, die letztlich viel stärker sind als die bloßen rechtsstaatlichen Strukturen, die dann womöglich keinen politischen Unterbau mehr haben.
Prof. Dr. Christoph Möllers hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Er ist Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und leitet das Projekt re:constitution am Forum für Transregionale Studien.
Christoph Möllers zur Rechtsstaatlichkeit in der EU: . In: Legal Tribune Online, 02.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38991 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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