2/2: Probleme auch in England
Das Vereinigte Königreich steht vor dem gleichen Problem: Zwar soll die EuGVVO mit der European Union (Withdrawal) Bill in nationales Recht umgewandelt werden. Im Verhältnis zu den älteren EU-Staaten geht aber das Brüsseler Übereinkommen von 1968 vor. Dieses Übereinkommen dürfte allerdings nicht lange Bestand haben, denn es sah bereits damals eine Kontrolle durch den EuGH vor. Es ist eines der vielen Regelwerke, die selbstständig eine Zuständigkeit europäischer Gerichte oder Behörden vorsehen, und die das Vereinigte Königreich in mühevoller Kleinarbeit überarbeiten muss. Will es sich von der Zuständigkeit des EuGH vollständig lösen, bleibt nur eine Kündigung.
Das größte Problem für die Briten liegt jedoch im Unterschied zwischen europäischen Verfahrensnormen und dem Common Law. Die Verfahrensregeln orientieren sich besonders stark am europäischen Civil Law. Typische Regeln des Common Law werden verdrängt. Das betrifft zum Beispiel "forum non conveniens", also die Wahl des am besten geeigneten Gerichts. Auch "anti-suit-injunctions", mit denen Verfahren in anderen Staaten verhindert werden können, gibt es in den europäischen Regeln nicht.
Nach dem Brexit sollen europäische Vorschriften, die englischen Rechtsprinzipien entgegenstehen, in einer Übergangsphase endgültig abgeschafft werden. Mit der sogenannten Henry-VIII-Klausel der European Union (Withdrawal) Bill soll das den Ministern sogar ohne Zustimmung des Parlaments erlaubt sein.
Doch selbst wenn europäische Regeln im britischen Recht fortbestehen, ist eine einheitliche Anwendung ohne den EuGH nicht gewährleistet. Britische Gerichte müssten dazu an die Rechtsprechung des EuGH vor und nach dem Brexit gleichermaßen gebunden sein. Hier hat sich die britische Regierung ein Stück weit geöffnet, eine verlässliche Zusage ist das aber nicht. Ohne Zusage dürften die in der EU verbleibenden Staaten aber kaum bereit sein, die europäischen Verfahrenserleichterungen weiterhin gegenüber dem Vereinigten Königreich anzuwenden.
Gravierende Auswirkungen auf Zivilprozesse
Doch was bedeutet dieses Verwirrspiel für die Justizpraxis? Das Vereinigte Königreich wird schließlich auch nach dem Brexit einer der wichtigsten Handelspartner der in der EU verbleibenden Länder bleiben. Tausende Unternehmen unterhalten Handelsbeziehungen dorthin. Sie importieren oder exportieren Waren und Dienstleistungen. Die britische Gesellschaftsform ltd. ist weit verbreitet. Verbraucher bestellen Waren im Internet über ein englisches Versandhaus oder haben ihr privates Konto bei einer englischen Bank. All das wird nicht mit dem Brexit zusammenbrechen.
Kommt es zum Streit, wird man die Verfahrensvorschriften nach dem Brexit genauer im Blick behalten müssen. Widerstreitende oder sich blockierende Gerichtsstände werden eine größere Rolle spielen. Unternehmen sollten angesichts der prozessualen Unsicherheiten vermehrt auf Gerichtsstandvereinbarungen setzen.
Für Verbraucher aus den neueren EU-Staaten bleibt der universelle Verbrauchergerichtsstand der EuGVVO erhalten. Sie können weiterhin an ihrem Wohnsitz klagen. Dagegen müsste ein deutscher Verbraucher vermutlich ein Verfahren in Großbritannien anstrengen.
Auch Arbeitnehmer aus Osteuropa – die übrigens ein wichtiges Thema der Leave-Kampagne waren – können ihren britischen Arbeitgeber in Europa verklagen. Britischen Arbeitnehmern bliebe eine Klage in ihrer Heimat gegen europäische Arbeitgeber jedoch unter Umständen verwehrt.
Der Brexit betrifft auch die europaweiten Erleichterungen für die Zustellung von Klagen und die Vernehmung von Zeugen. Hier fällt das Zivilverfahrensrecht ebenfalls auf alte völkerrechtliche Abkommen mit ungewisser Zukunft zurück. Gleiches gilt für das europäische Mahnverfahren und die Vollstreckung von Urteilen. Wer also ein Urteil im Vereinigten Königreich erstritten hat, kann sich keinesfalls sicher sein, dass dieses Urteil wie bisher in Europa umgesetzt werden kann. Jedenfalls fordert die Umsetzung erheblich höheren Aufwand und wie früher ein Exequaturverfahren zur Zulassung ausländischer Vollstreckungstitel.
Wer einmal einen grenzüberschreitenden Prozess führen musste, wird das EU-Verfahrensrecht zu schätzen wissen. Dort wurden verfahrensrechtliche Hürden konsequent beseitigt, die außerhalb der EU ein Verfahren schnell um mehrere Monate bis Jahre verzögern oder sogar von diplomatischer Unterstützung abhängig machen.
So weit wird es im Verhältnis zum Vereinigten Königreich vermutlich nicht kommen. Denn beide Seiten des Kanals kennen den Stellenwert einer funktionierenden Europäischen Justiz. Angesichts der Komplexität ist jedoch sicher: Mit dem Brexit leben alte, längst überholt geglaubte Verfahrenshürden wieder auf. Die Rolle des EuGH dürfte eine der größten sein.
Die Autoren Dr. Luidger Röckrath, LL.M. (Berkeley) und Simon Fischer sind Rechtsanwälte bei Gleiss Lutz in München. Beide sind tätig im Bereich Prozessführung.
Grenzüberschreitende Justiz und Brexit: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24721 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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