Ein BMI-Gesetzentwurf stellt Seenotretter strafrechtlich auf eine Stufe mit Schleusern. Die entsprechende EU-Richtlinie erfordert das nicht. Eine Lösung auf der Rechtfertigungsebene reicht nicht, meinen Aziz Epik und Valentin Schatz.
Derzeit wird im Innenausschuss des Bundestags über das geplante "Rückführungsverbesserungsgesetz" verhandelt. Wie bereits im November auf LTO berichtet, sieht eine vom BMI vorgelegte Formulierungshilfe vor, den Straftatbestand des § 96 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) künftig auch auf Fälle altruistischer Hilfeleistung zur unerlaubten Einreise in einen EU- oder Schengen-Staat zu erstrecken. Derzeit erfasst diese Strafnorm nur Fälle eigennütziger Hilfeleistung: Die Strafnorm ist für gewerbsmäßige Schleuser konzipiert, die sich für die Einschleusung von Ausländer:innen entlohnen lassen. Seenotretter:innen, die Menschen auf dem offenen Meer vor dem Ertrinken retten und anschließend an einen sicheren Ort verbringen, sind bisher von diesem Tatbestand nicht erfasst.
Dieses Gesetzesvorhaben birgt nun, wie wir in einem Rechtsgutachten ausführlich dargelegt haben, die Gefahr einer Kriminalisierung ziviler Seenotrettung.
Tatbestand erfüllt, Rechtfertigung unsicher
Das Bundesinnenministerium (BMI) vertritt die Auffassung, das Verhalten von Seenotretter:innen sei bei der Neuregelung schon nicht tatbestandsmäßig. Es argumentiert, dass gerettete Menschen im Falle eines mit dem europäischen Ausschiffungsstaat koordinierten Transports und einer anschließenden Ausschiffung formal nicht eingereist wären. Dabei geht das BMI offenbar vom Rechtsgedanken des § 13 Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus, wonach Ausländer:innen an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle erst eingereist sind, wenn sie die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert haben. Bei einer regulären Einreise auf dem Seeweg läge eine formale Einreise also erst bei Passieren einer Grenzübergangsstelle im Hafen vor, nicht bereits mit Überqueren der Seegrenze. Im Hafen würden die Menschen jedoch den staatlichen Behörden übergeben, sodass es im Ergebnis nicht zu einer unerlaubten Einreise komme.
Nach diesem Ansatz fehlte es mangels einer unerlaubten Einreise an einer tauglichen Haupttat. Es gebe in diesen Fällen keine Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften über die Einreise von Ausländer:innen in das Hoheitsgebiet eines EU- oder Schengen-Staates. Diese Auffassung steht aber auf äußerst unsicherem Grund, da sich diese Frage, wann eine Einreise vorliegt, nach dem Recht des jeweiligen EU- oder Schengen-Staates richtet. § 13 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist insofern nicht maßgeblich. Zudem kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass die im Ergebnis tatsächlich stattfindende Einreise von aus Seenot geretteter Menschen in allen europäischen Staaten – und in allen denkbaren Einzelfällen – als erlaubt anzusehen ist, nur weil sie im Hafen von staatlichen Behörden in Empfang genommen werden.
Nach unserer Auffassung ist das Verhalten ziviler Seenotretter:innen beim Rettungsvorgang und bei der Verbringung in einen Ausschiffungshafen zwar nach § 34 Strafgesetzbuch (StGB) gerechtfertigt, da eine Rettung seerechtlich erst mit Verbringung der Menschen an einen sicheren Ort abgeschlossen ist. Diese Position ist jedoch weder unstreitig noch ist die künftige Rechtspraxis insoweit hinreichend antizipierbar. § 34 StGB setzt immerhin eine komplexe Interessenabwägung voraus, deren Ausgang im Einzelfall nicht prognostiziert werden kann. Daran ändern auch Hinweise auf § 34 StGB in der Gesetzesbegründung des § 96 Abs. 4 AufenthG-E nichts.
Die Ratio der Änderung bleibt im Dunkeln
Bislang hat das BMI keine tragfähige Begründung für die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausweitung der Strafbarkeit vorgelegt. Daher bleibt im Dunkeln, welchen legitimen Zweck die neue Strafvorschrift erfüllen sollte. Das BMI hat zu Beginn der Diskussion auf bewaffnete Grenzdurchbrüche in altruistischer Motivation an der kroatischen Außengrenze abgestellt. Allerdings ließe sich die vermeintlich bestehende Schutzlücke ohne Weiteres durch eine Ausweitung des § 96 Abs. 4 AufenthG auf Taten nach § 96 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG (Beisichführen einer Schusswaffe) schließen. Denn insoweit hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass § 96 Abs. 4 AufenthG zwar bislang nicht den Grundtatbestand altruistischen Hilfeleistens (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) AufenthG) erfasst. Liegt jedoch ein qualifizierter Fall des Einschleusens nach § 96 Abs. 2 Nr. 1 (gewerbsmäßige Schleusung), Nr. 2 (Bandentat) oder Nr. 5 (Lebens- oder Gesundheitsgefährdung) vor, kommt es nach der Rechtsprechung nicht mehr darauf an, ob der Grundtatbestand des Hilfeleistens in der eigennützigen oder altruistischen Variante verwirklicht ist (BGH, Urt. v. 15.03.2021, Az. 5 StR 627/19). Ein qualifizierter Fall altruistischer Hilfeleistung ist also nach der Rechtsprechung schon heute von § 96 Abs. 4 AufenthG erfasst.
Käme es dem BMI daher darauf an, diese "besonders gefährliche" Form der Schleusung adäquat zu fassen, stünde eine dogmatisch konsistente Lösung zur Verfügung, welche den Kollateralschaden einer Kriminalisierung ziviler Seenotrettung vermeidet.
Zu bedenken ist ferner, vor welche Herausforderungen eine entsprechende Neuregelung die ohnehin überlastete Strafjustizpraxis stellen dürfte: Nach der vom BMI vertretenen Auffassung käme für die Frage der Strafbarkeit künftig auf die präzise Ermittlung der Umstände der Rettung, des Transports und der Ausschiffung der aus Seenot geretteten Menschen an. Zudem wären die Einreisebestimmungen des jeweiligen EU- oder Schengenstaats im Detail zu bestimmen. Es drohen also komplexe Beweisaufnahmen, die wertvolle justizielle Ressourcen binden würden.
Gefahr der Abschreckung humanitärer Hilfeleistung
Bei der Diskussion sollte zudem nicht aus dem Blick verloren werden, welche Auswirkungen die geplante Gesetzesänderung für die Praxis der zivilen Seenotrettung haben könnte: Bereits das Risiko, einem Strafverfahren in Deutschland ausgesetzt zu sein, dürfte einen deutlichen chilling effect auf die zivile Seenotrettung und andere Formen der humanitären Hilfeleistung haben. Es könnte also die Bereitschaft von ehrenamtlichen Seenotretter:innen abnehmen, unter bereits heute widrigen Bedingungen humanitäre Schutz- und Hilfsleistungen zu erbringen, die eigentlich den Mitgliedstaaten der EU obliegen. Dabei ist auch zu beachten, dass die Formulierungshilfe zusätzlich eine Anhebung des Strafrahmens von bislang drei Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe auf sechs Monate bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe vorsieht.
Mit der erhöhten Mindeststrafe wird zudem die Ausweitung strafprozessualer Ermittlungsbefugnisse begründet. So sieht die Formulierungshilfe vor, auch das uneigennützige Hilfeleisten zur Einreise – einschließlich des § 96 Abs. 4 Var. 1 AufenthG-E – künftig in den Straftatenkatalog des § 100a Abs. 2 StPO aufzunehmen und damit eine Telekommunikationsüberwachung zu ermöglichen, die bislang nur im Fall der qualifizierten Einschleusung von Ausländer:innen (§ 96 Abs. 2 AufenthG) zulässig ist.
Es ist keineswegs fernliegend, dass einzelne Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte in Bezug auf an der zivilen Seenotrettung beteiligte Personen den Anfangsverdacht einer Einschleusung nach § 96 Abs. 4 Var. 1 AufenthG-E bejahen. Gleiches gilt für den Anfangsverdacht einer Beihilfe zu einer Einschleusung, etwa durch die Büromitarbeiter:innen ziviler Seenotrettungsorganisationen, welche ganz überwiegend in Deutschland sitzen. In der Folge kann neben dem Einsatz weiterer strafprozessualer Maßnahmen sogar eine Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO beantragt beziehungsweise angeordnet werden.
In schlechter europäischer Gesellschaft
Unabhängig von der Intention der geplanten Änderung des § 96 Abs. 4 AufenthG-E würde sich diese damit in eine Serie von Versuchen der vergangenen Jahre einreihen, die zivile Seenotrettung von staatlicher Seite durch gezielte und teilweise rechtswidrige Änderungen der Rechtslage und/oder Rechtspraxis zu behindern oder ganz auszuschalten. Insbesondere wiederholte Vorstöße zur Kriminalisierung der Seenotrettung – etwa in Italien – stehen seit langem im Zentrum der Kritik. Aus deutscher Sicht ist insbesondere der Fall der Iuventa zu nennen. Die italienischen Behörden ermitteln seit 2017 wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur illegalen Einreise gegen die Crew des Schiffes der deutschen NGO Jugend Rettet. Zur Anklage kam es erst 2021 und der Strafprozess ist noch nicht abgeschlossen.
Lösungsvorschlag im Einklang mit dem Unionsrecht
Die Problematik der Kriminalisierung humanitärer Unterstützung von Geflüchteten und Migrant:innen wurde auch vom Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission aufgegriffen. So hat das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, die in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2002/90/EG ausdrücklich vorgesehene Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe in nationales Recht umzusetzen. Auch die Europäische Kommission hat sich in einer Mitteilung auf Grundlage des einschlägigen Unions- und Völkerrechts klar gegen eine Kriminalisierung von NGO und "anderen nichtstaatlichen Akteuren, die Such- und Rettungseinsätze auf See durchführen und dabei die einschlägigen Vorschriften einhalten", ausgesprochen. Hinzu kommt, dass derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof ein von einem italienischen Gericht eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren zur Frage der Unionsrechtkonformität der italienischen Entsprechung zu § 96 Abs. 4 AufenthG-E anhängig ist. Auch die italienische Regierung hat in ihrem Gesetz keine Straffreistellung für Fälle humanitärer Unterstützung, insbesondere also die Seenotrettung, vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, warum das BMI bei der geplanten Änderung des § 96 Abs. 4 AufenthG-E auf einer Gesetzesfassung beharrt, die das Verhalten von zivilen Seenotretter:innen nicht völlig rechtssicher straffrei stellt.
Zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und zur Sicherstellung der Unionsrechtskonformität sollte daher mindestens ein unmissverständlich formulierter Tatbestandsausschluss für Hilfeleistungen mit dem Ziel der humanitären Unterstützung vorgesehen werden. Ein solcher könnte unter Rückgriff auf den Wortlaut der Richtlinie 2002/90/EG erfolgen. Ein möglicher § 96 Abs. 6 AufenthG könnte lauten: "Absatz 1 Nr. 1 und Absatz 4 sind nicht anzuwenden, wenn die Hilfeleistung mit dem Ziel der humanitären Unterstützung der betroffenen Person erfolgt." Ein solcher Tatbestandsausschluss müsste allerdings – ebenfalls in Umsetzung der Richtlinie – konsequenterweise auch auf die Beihilfe zur unerlaubten Einreise gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, § 27 StGB erstreckt werden. Besser noch: Der Bundestag verzichtet ganz auf die Änderung des § 96 Abs. 4 AufenthG.
Anders als ursprünglich geplant werden die Abgeordneten über die Weihnachtsfeiertage Zeit für weitere Reflektion haben. Der Innenausschuss des Bundestags hat das Gesetzesvorhaben im Dezember nicht mehr auf der Tagesordnung gesetzt. Auch die ursprünglich für die vergangene Woche geplante 2. und 3. Lesung – mit anschließender Abstimmung – im Plenum des Bundestags ist aufgrund von Meinungsverschiedenheiten in der Regierungskoalition auf den Januar verschoben worden.
Prof. Dr. Aziz Epik ist Juniorprofessor für Strafrecht, Internationales Strafrecht und Kriminologie an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Valentin Schatz ist Juniorprofessor für Juniorprofessor für Öffentliches Recht und Europarecht mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität Lüneburg. Valentin Schatz berät regelmäßig NGOs zu Rechtsfragen der zivilen Seenotrettung. Der Text basiert auf einem wissenschaftlichen Gutachten, das die Verfasser im Auftrag der LeaveNoOneBehind gUG – pro bono – erstellt haben.
"Rückführungsverbesserungsgesetz" und zivile Seenotrettung: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53465 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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