"Nur ein Idiot würde auf dem Gehsteig einen Schulbus überholen", stand auf dem Schild, das eine Verkehrsünderin auf Geheiß des Richters durch Cleveland (Ohio) tragen musste. TV-Sender berichteten live, Passanten verhöhnten die Frau. Michael Kubiciel über shame sanctions, die man in Deutschland für undenkbar hält – und die doch auch hierzulande bereits Wirklichkeit sind.
Menschen, die mit einem Schild in der Hand von ihren Verfehlungen berichten, das meint man nur aus den USA zu kennen. In Deutschland mag man sich bestenfalls an den Film "Muxmäuschenstill" erinnern. Europäer neigen dazu, Maßnahmen wie die Veröffentlichung der Kundennamen von Prostituierten als Ausdruck einer irrationalen und simplifizierenden Strafrechtspolitik abzutun.
Die amerikanischen Richter wollten mit solchen drastischen Urteilssprüchen doch lediglich vor Wahlen die Sympathie der Bevölkerung erheischen und die überlasteten Gefängnisse schonen. Die shame sanctions seien eine Wiederbelebung der mittelalterlichen Prangerstrafe, keine neuen Alternativen zur Freiheits- und Geldstrafe, heißt es.
Moderne Ehrenstrafe als Denkzettel
Diese Kritik ist vorschnell und macht es den Befürwortern moderner Ehrenstrafen zu einfach. Denn die shame sanctions sind keineswegs irrational. Im Gegenteil: Sie lassen sich mit den heute anerkannten Theorien über Sinn und Zweck der Strafe erklären.
So dürfte die in Cleveland verhängte shame sanction die Verkehrssünderin wirksamer von weiteren waghalsigen Überholmanövern abhalten als ein Bußgeld. Wenn aber die Strafe den Einzelnen von der Begehung weiterer Straftaten abhalten soll, muss sie wehtun. Für den großen deutschen Strafreformer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Franz von Liszt, war diese Denkzettelwirkung integraler Bestandteil seiner spezialpräventiven Konzeption des Strafrechts. Auch heute noch erkennt der Gesetzgeber an, dass zumindest das Jugendstrafrecht eine solche Wirkung haben muss. Der Warnschussarrest ist nur ein Beispiel.
Shame sanctions haben nicht nur den einzelnen Straftäter im Blick, sie wenden sich auch an die Allgemeinheit. Sie heben die "Heimlichkeit des Strafens" (Johannes Nagler) auf, die den heutigen Strafvollzug kennzeichnet. Nicht hinter Gefängnismauern oder mittels einer anonymen Geldüberweisung vollzieht sich die Strafe, sondern gleichsam vor aller Augen. Das steigert die abschreckende Wirkung der Strafe.
Daneben haben Ehrenstrafen aber auch eine positive Botschaft: Sie versichern der Allgemeinheit, dass ihre Normen und Werte weiterhin gelten. Wie gesagt: "Nur ein Idiot würde auf dem Gehsteig einen Schulbus überholen." So gesehen, dienen shame sanctions ganz vorzüglich der so genannten positiven Generalprävention. Diese Straftheorie hatte einst der französische Soziologe Émile Durkheim entwickelt und sie ist in Deutschland heute herrschend.
Deutsche Wiedergänger der shame sanctions
Anders als viele Europäer meinen, sind Ehrenstrafen also nicht irrational, sondern funktional. Auch das hierzulande geltende Recht hat sie nicht gänzlich verbannt. Zwar sind in den vergangenen beiden Jahrhunderten entehrende Strafen ebenso aus den deutschen Strafgesetzbüchern entfernt worden wie Regeln über den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Doch ordnet noch heute § 45 Strafgesetzbuch den Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts an – ein Überbleibsel der alten "infamia iuris", der Ehrloserklärung, die zu Amtsunfähigkeit und Zunftausschluss führte. Im Wirtschafts- und Umweltverwaltungsrecht finden sich Vorschriften, die eine Publikation von Regelverstößen unter Nennung von Ross und Reiter erlauben. Dieses "naming and shaming" von Unternehmen, die gegen (strafbewehrte) Pflichten des Kartell-, Wertpapierhandels- oder Emissionshandelsgesetzes verstoßen haben, ist durchaus mit einer Strafe vergleichbar.
Problematischer als die Vorschriften selbst, sind ihre rechtspolitischen Folgen. Ist das naming and shaming nämlich einmal im Arsenal rechtlicher Verhaltenssteuerung etabliert, besteht die Gefahr, dass es nicht nur gegen Unternehmen, sondern auch gegen Unternehmer, also Privatpersonen, eingesetzt wird. Denn gerade der europäische Gesetzgeber zeigt sich äußerst sanktionsfreudig und auf ihn gehen die meisten der punitiven Publizitätsregeln zurück. Bei aller Zurückhaltung gegenüber Dammbruchprognosen: Es ist keineswegs ausgemacht, dass shame sanctions diesseits des Atlantiks endgültig überwunden sind.
Schadenfreude und Spottlust statt "öffentlicher Gerechtigkeit"
Daher muss an die rechtsprinzipiellen Einwände erinnert werden, die bereits während der Aufklärung gegen Ehrenstrafen vorgebracht worden sind: Shame sanctions sind nicht nur resozialisierungsfeindlich, weil sie den öffentlich Beschämten stigmatisieren, sozial isolieren und damit "notwendig verderben", wie Karl Grolman 1805 meinte.
Vor allem machen Ehrenstrafen die Öffentlichkeit zum Bestandteil der Strafvollstreckung. Die Strafvollziehung wird vom Staat auf einen zufälligen Kreis von Privaten verlagert. Die Passanten in Cleveland können aber nicht die "öffentliche Gerechtigkeit" (Kant) garantieren, sondern empfinden wie alle Menschen Schadenfreude und Spottlust.
Das ist für den Delinquenten nicht nur demütigend. Aufgehoben wird auch jene Status- und Rechtsgleichheit, die in einem Rechtsstaat zwischen Straftätern und Bürgern besteht. Weil sich das Recht auch von seinen Randbereichen aus verändert, sollten wir wachsam gegenüber modernen Ehrenstrafen sein, wenn wir das Erbe der Aufklärung bewahren wollen.
Der Autor PD Dr. Michael Kubiciel lehrt deutsches und europäisches Strafrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Universität Regensburg. Er forscht u.a. zu vergleichenden Strafrechtstheorien. In diesem Wintersemester vertritt er einen Lehrstuhl für Strafrecht an der Universität zu Köln.
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Am Pranger: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7644 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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