EGMR zur Sicherungsverwahrung: Im Westen wohl nichts Neues

Pia Lorenz / LTO-Redaktion

14.04.2011

Einmal mehr hatten die Straßburger Richter über die rückwirkende Verlängerung der Anordnung von Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Ein mehrfacher Vergewaltiger bekommt nun eine Entschädigung. Weiteres Ungemach scheint Deutschland durch die Entscheidung aber nicht zu drohen.

Die Chancen im Fall J. gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) standen gut. Der vorbestrafte 58-Jährige wandte sich gegen die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die zur Tatzeit zulässige Höchstdauer von zehn Jahren hinaus. Tatsächlich bleibt das Gericht mit der aktuellen, noch nicht rechtskräftigen Entscheidung (Az. 30060/04) seiner Linie treu und stellt fest, dass auch J. in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verletzt wurde und auch der Grundsatzes verletzt wurde, dass keine Strafe ohne Gesetz verhängt werden darf (Art. 7 § 1 EMRK).

Seit 1976 verbrachte der mehrfach wegen Vergewaltigung und versuchter Vergewaltigung Verurteilte die meiste Zeit hinter Gittern. Im Jahr 1990 war er zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt worden, gleichzeitig wurde die anschließende Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieser Maßnahme war er von 1992 bis 2002 unterzogen. Als im Jahr 2002 die zur Tatzeit noch geltende Höchstdauer von zehn Jahren ablief, verlängerte das Landgericht Karlsruhe seine Unterbringung , da diese Begrenzung zwischenzeitlich im Jahr 1998 abgeschafft worden war.

J. hatte keinen Erfolg, obwohl er sich gegen die nachträgliche Verlängerung wehrte: Im Jahr 2004 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verlängerung der Sicherungsverwahrung entsprechend seiner damaligen Linie für verfassungsgemäß, da die Sicherungsverwahrung keine Strafe darstelle (Az. 2 BvR 2027/02). Erst im August 2009 wurde J. auf Bewährung aus der Sicherungsverwahrung entlassen, nachdem zwischenzeitlich Lymphdrüsenkrebs bei ihm diagnostiziert worden war.

Seit dem Jahr 2009 dann konnte J. auf endgültige Freiheit hoffen: Der Gerichtshof stellte fest, dass die deutsche nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die zum Tatzeitpunkt geltende Höchstfrist von zehn Jahren hinaus konventionswidrig ist (M. gegen Deutschland, Az. 19359/04).

Keine staatliche Berufung auf den Schutz potenzieller Opfer

Und bei dieser Linie bleiben die Straßburger Richter: Auch im Fall J. sehen sie keinen hinreichenden Zusammenhang zwischen der Verurteilung des Straftäters und seinem fortdauernden Freiheitsentzug, als dass dieser noch als "Freiheitsentzug nach Verurteilung" im Sinne von Art. 5 § 1a der Europäischen Menschrechtskonvention gelten könnte.

"Als das zuständige Gericht 1990 seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnete, bedeutete diese Entscheidung, dass er nur für eine klar festgeschriebene Höchstdauer in dieser Form der Unterbringung bleiben konnte. Ohne die Änderung des StGB 1998 hätte die Strafvollstreckungskammer des zuständigen Gerichts die Dauer seiner Sicherungsverwahrung nicht verlängern können", so der EGMR in seiner Pressemitteilung.

Dass die deutschen Gerichte die Unterbringung verlängert hatten, um die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des verurteilten Vergewaltigers zu schützen, der eine Therapie ablehnte, ändert nach Auffassung des Gerichts nichts. Die potenziellen Straftaten seien nicht konkret und spezifisch genug gewesen, so die Kammer. Sie stellt dabei darauf ab, dass die Konvention es nicht zulässt, die potenziell von Leid betroffenen (Vergewaltigungs-) Opfer als Einzelpersonen vor Straftaten zu schützen, indem die Staaten Maßnahmen ergreifen, die ihrerseits gegen die Konventionsrechte der Person verstoßen, von der die Gefahr ausgeht.

Zunächst keine weiteren Neuerungen mehr nach den "Fällen M. und H."

Auch das Rückwirkungsverbot hält der EGMR für verletzt, da die Richter auch bei ihrer Auffassung bleiben, dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung unter den damaligen Umständen eine Strafe im Sinne der Konvention ist.

Die "gerechte Entschädigung" in Höhe von 27.467 Euro, die Deutschland nun für den erlittenen immateriellen Schaden an J. zu zahlen hat, wird die Regierung wohl ebenso verkraften wie die Übernahme der dem Verurteilten entstandenen Kosten von weiteren 4.000 Euro.

Immerhin scheint die Straßburger Entscheidung keine ganz neuen Aspekte zu enthalten, welche die zwischenzeitliche Neustrukturierung des gesamten Rechts der Sicherungsverwahrung ins Wanken bringen könnten.

Fragen bleiben offen - Deutschland wartet auf Karlsruhe

Allenfalls die besondere Erwähnung der Unzulässigkeit der Berücksichtigung der Interessen potenzieller "Opfer von Leid" könnte nachdenklich machen, dürfte aber auch auf die in Teilen sehr deutliche deutsche Kritik an der fehlenden Berücksichtigung von Sicherheitsinteressen in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zurückzuführen sein. 

Problematischer als die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung dürfte weiterhin deren nachträgliche Anordnung bleiben. Auch die erstmalige Verhängung erst nach der Verurteilung haben die Straßburger Richter zwischenzeitlich als konventionswidrig qualifiziert. Die neuen deutschen Regeln machen es aber möglich, in Übergangsfällen auch weiterhin die Sicherungsverwahrung anzuordnen bei Straftaten, die vor dem 1. Januar 2011 begangen wurden. Ob diese Vorschrift den europäischen Vorgaben stand hält, bleibt abzuwarten.

Gleiches gilt für die ausstehenden Entscheidungen der obersten deutschen Verfassungshüter, auf die nicht nur weiterhin inhaftierte Verurteilte, sondern auch diverse Oberlandesgerichte, die über Entlassungsanträge unterschiedlich urteilen, und nicht zuletzt die Fachwelt weiterhin warten.

pl/LTO-Redaktion

 

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Zitiervorschlag

EGMR zur Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 14.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3027 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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