EGMR zur Sicherungsverwahrung: "Es geht eben nicht nachträglich!"

von Pia Lorenz

13.01.2011

Seit über einem Jahr beschäftigt Deutschland sich mit der Sicherungsverwahrung, zum 1. Januar ist das Gesetz zur Neuregelung in Kraft getreten. Nun hat der EGMR erstmals explizit die nachträgliche Anordnung von Freiheitsentziehung für rechtswidrig erklärt. Was das für noch inhaftierte Straftäter und die deutsche Rechtslage heißt, erklärt Thomas Ullenbruch im LTO-Interview.

LTO: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in vier Fällen entschieden. Was unterscheidet den berühmt gewordenen Fall des Straftäters H. von den anderen drei Fällen und der Entscheidung aus dem Jahr 2009?

Ullenbruch: Drei Fälle betreffen wie die erste Entscheidung des EGMR vom Dezember 2009 Konstellationen der nachträglichen Verlängerung einer Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus, obwohl diese zum Zeitpunkt der Anordnung durch das Strafgericht gesetzlich auf höchstens zehn Jahre befristet war.

Der Fall H. hingegen ist so gelagert, dass ein Strafgericht rechtskräftig lediglich eine befristete Freiheitsstrafe verhängt hatte. Der Verurteilte wurde aber nach deren vollständiger Verbüßung nicht entlassen, sondern nachträglich ordneten andere Gerichte weitere Freiheitsentziehungen in einem Gefängnis an. Das geschah auf der Grundlage von Gesetzen, die es zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat und zum Zeitpunkt der Verurteilung des Betroffenen noch gar nicht gegeben hatte.

Neu ist also, dass der EGMR sich erstmals zur Konventionswidrigkeit der nachträglichen Anordnung von Freiheitsentziehung geäußert hat.

EGMR: Nachträgliche Anordnung konventionswidrig

LTO: Während also bisher nur die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung Gegenstand der europäischen Rechtsprechung war, hat der EGMR nun erstmals explizit deren nachträgliche Anordnung für konventionswidrig erklärt. Einmal auf den Punkt gebracht: Hätte diese Entscheidung, wäre sie früher gekommen, für den deutschen Gesetzgeber nicht Einiges vereinfacht?

Ullenbruch (lacht): So ist es. Für das vor Kurzem zum Abschluss gebrachte Gesetzgebungsverfahren wäre es sicherlich hilfreich gewesen, wenn die Entscheidung früher gekommen wäre. Schon ein paar Wochen früher hätten da sicherlich weiter geholfen.

LTO: Wie argumentiert der EGMR bezüglich der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung?

Ullenbruch: Nach Ansicht des EGMR verstößt die fortwährende Freiheitsentziehung des Betroffenen nach vollständiger Verbüßung einer Freiheitsstrafe ausschließlich zu Präventionszwecken in einem Gefängnis gegen Art. 5, also das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Zum Einen bestehe kein ausreichender Kausalzusammenhang mehr mit der ursprünglichen Verurteilung durch das Strafgericht. Zum Anderen wäre eine entsprechende Rechtfertigung allenfalls im Falle einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Feststellung einer entsprechenden Krankheit auf der Grundlage eines entsprechenden Gesetzes denkbar.

Der Fall H. und seine Geschichte: Fortgeltungsanordnung des BVerfG

LTO: Müssen nun aufgrund der Entscheidung in Sachen H. sämtliche noch in Sicherungsverwahrung befindlichen Straftäter, deren Unterbringung nachträglich angeordnet wurde, entlassen werden?

Ullenbruch: Bei der Entscheidung des EGMR handelt es sich um eine Individualbeschwerde. Sie betrifft also unmittelbar nur einen Einzelfall.

Außerdem ist die Konstellation in mancher Hinsicht etwas untypisch. Hier liegt die Besonderheit vor, dass zunächst die Zeit überbrückt worden ist, die sich an das Ende des Strafvollzugs anschloss. Dies geschah auf der Grundlage des zwischenzeitlich gar nicht mehr existierenden bayerischen Straftäterunterbringungsgesetzes und im Anschluss durch eine ominöse Fortgeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).

Dieses erklärte im Jahr 2004 zwar das bayerische Gesetz für verfassungswidrig, ordnete aber für einen Übergangszeitraum dennoch weiterhin die Möglichkeit der Unterbringung des Betroffenen an.

"Eine Übertragung auf zukünftige Entscheidungen ist zu erwarten"

Der Regelfall einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung sieht anders aus. Sie wird nach § 66b Strafgesetzbuch (StGB) kurz vor oder kurz nach dem Strafende auf der Grundlage wie auch immer gearteter so genannter "neuer Tatsachen" angeordnet.

Dennoch sind bei vorläufiger Betrachtung jedenfalls Kernaussagen der heutigen Entscheidung so formuliert, dass ihre Übertragung auch auf älle Fälle der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB in den demnächst anstehenden Entscheidungen des EGMR hierzu zu erwarten steht.

Dies gilt vor allem für den fehlenden Kausalzusammenhang mit der Ausgangsverurteilung gemäß Art. 5 EMRK. Es gilt aber auch für die Unvereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot nach Art. 7 EMRK. Im vorliegenden Fall H. spielte diese zwar keine Rolle, sie ist aber tragendes Begründungselement in den drei anderen aktuellen Entscheidungen zu den so genannten Zehn-Jahres-Altfällen.

"Die Wahrscheinlichkeit neuer Fortgeltungsanordnungen ist gesunken."

LTO: In zwei Wochen verhandelt auch das Bundesverfassungsgericht einen Fall der Sicherungsverwahrung. Inwieweit ist das Urteil des EGMR von Bedeutung?

Ullenbruch: Die Bundesverfassungsrichter werden die heute veröffentlichten Entscheidungen des EGMR wohl sehr genau lesen. Dabei werden sie auch zur Kenntnis nehmen, dass der EGMR in der Entscheidung H. die höchst umstrittene Fortgeltungsanordnung des BVerfG aus dem Jahr 2004 hinsichtlich der für verfassungswidrig erklärten Straftäterunterbringungsgesetze der Länder nicht bloß beiläufig erwähnt, sondern die abweichende Mindermeinung dreier Mitglieder des damaligen Senats des BVerfG ausführlich dargestellt hat.

Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Straßburger Richter die Frage derartiger Fortgeltungsanordnungen im vorliegenden Zusammenhang noch gar nicht beantworten mussten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das BVerfG auch in den aktuellen Verfahren den Irrweg einer befristeten Duldung konventionswidriger Zustände für eine Übergangszeit beschreitet, ist meines Erachtens spätestens mit den heute veröffentlichten Entscheidungen deutlich gesunken.

Nicht nur ich habe im Hinblick auf die wiederholte Verweigerung des BVerfG, konventionsgemäße Zustände im Wege einstweiliger Anordnungen herzustellen, befürchtet, dass die Bundesverfassungsrichter sich möglicherweise überlegen, wie schon im Jahr 2004 Fortgeltungsanordnungen zu treffen, obwohl die Rechtswidrigkeit bereits festgestellt ist. Eigentlich ist das spätestens jetzt undenkbar, aber in diesen Verfahren habe ich bisher schon mehrere Dinge für undenkbar gehalten, die dann doch anders entschieden wurden. Da wundert man sich irgendwann über gar nichts mehr.

"Neuregelung der Sicherungsverwahrung alsbald schon wieder ein Scherbenhaufen"

LTO: Was bedeutet die Entscheidung für die nun seit dem 1. Januar geltende Rechtslage in Deutschland? Besteht nun erneut Nachbesserungsbedarf?

Ullenbruch: Die gerade erst mit viel Selbstlob verabschiedete Neuregelung der Sicherungsverwahrung dürfte alsbald schon wieder einem Scherbenhaufen gleichen.

Das Therapieunterbringungsgesetz wird verfassungsrechtlicher Prüfung kaum standhalten. Die Frage ist nur, in welcher Hinsicht es am meisten gegen das Grundgesetz verstößt: Fehlende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, Einzelfallgesetz zur Aushebelung der Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 oder fehlende Bestimmtheit des Begriffs der "psychischen Störung"?

Und nun wackelt auch noch der zentrale Baustein der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB. Das ist deshalb sehr bedeutsam, weil trotz der weitgehenden Streichung im neuen Text des StGB die zum 1. Januar 2011 in Kraft getretene Neuregelung in einer im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) versteckten Übergangsbestimmung die Möglichkeit beibehält, die Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen - noch jahrelang und für alle derzeit noch inhaftierten rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen.

Schließlich wird der Gesetzgeber kaum umhin können, auch die Beachtung der Vorgaben des EGMR zu den Zehn-Jahres-Altfällen gesetzlich zu regeln, es sei denn, das BVerfG zöge sich in der anstehenden Entscheidung den unpopulären Schuh eines "Reparaturbetriebs" hinsichtlich populärer Fehlleistungen des Gesetzgebers an.

"Schlicht eine Mogelpackung, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung weitgehend abgeschafft wurde"

LTO: Lassen Sie mich kurz einhaken: Von einer Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kann also de facto auch nach dem Inkrafttreten des "Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung" für den Moment noch keine Rede sein, weil Übergangsbestimmungen die nachträgliche Anordnung weiterhin ermöglichen?

Ullenbruch: Das neue Gesetz regelt in § 316 e Abs. 1 S. 2 EGStGB, dass es in allen Fällen, denen Straftaten zugrunde liegen, die vor dem 1. Januar 2011 begangen wurden, komplett bei der alten Regelung bleibt. Da ist es schlicht eine Mogelpackung, wenn man medial kolportiert, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung "künftig abgeschafft" werde.

Um das mal zu veranschaulichen: Wenn jemand vor drei Jahren wegen Vergewaltigung zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, dann könnte nach der jetzigen Regelung, wenn man neue Tatsachen findet, auch noch in drei Jahren nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden.

LTO: Dann kann das Urteil des EGMR in Sachen H. für die deutsche Gesetzgebung ja von ganz erheblicher Bedeutung sein…

Ullenbruch: Wenn durch dieses Urteil nun die nachträgliche Sicherungsverwahrung wackelt, dann entsteht in der Tat eine Lücke. Denn diese "versteckte Beibehaltung" sollte ja dazu dienen, irgendwann ganz ohne so genannte Schutzlücken auf die nachträgliche Anordnung verzichten zu können, wenn man gleichzeitig die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausbaut, also häufiger schon im Urteil ausspricht, dass sich an die Verbüßung der Haftstrafe noch Sicherungsverwahrung anschließen kann.

"Es entsteht eine Sicherheitslücke"

Wenn man nun einerseits auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung sofort verzichten muss und andererseits die vorbehaltene nicht rückwirkend verhängen kann, dann kann in der Tat eine Lücke entstehen. Absolute Sicherheit gibt es aber in diesem Bereich genausowenig wie zum Beispiel im Straßenverkehr.

Die nun in Kraft getretenen Neuregelungen sind allerdings natürlich nicht in allen Punkten verfehlt. Zum Beispiel: Die erweiterten Möglichkeiten der Führungsaufsicht werden die durch den sofortigen Wegfall der nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung und die unumgängliche Entlassung sämtlicher Zehn-Jahres-Altfälle entstehende Lücke ein wenig abfedern.

Die Auffassung des EGMR übrigens haben viele Fachleute schon seit dem Jahr 2004 und der Fortgeltungsanordnung des BVerfG vertreten: Es geht eben nicht nachträglich!

LTO: Herr Ullenbruch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Thomas Ullenbruch ist Richter am AG Emmendingen sowie Autor und Mitherausgeber zahlreicher Veröffentlichungen insbesondere zur Sicherungsverwahrung.

Das Interview führte Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, EGMR zur Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 13.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2331 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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