EU-Staaten, die auf anlasslose Internetüberwachung ihrer Geheimdienste setzen, müssen nach dem Urteil des EGMR strenge Sicherungen vorsehen. Der Gerichtshof verweist auch auf ein BVerfG-Urteil.
Etwas weniger als drei Jahre ist es inzwischen her, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die frühere Überwachungspraxis der britischen Regierung und ihres Geheimdienstes GCHQ für rechtswidrig erklärte. Damals befand man, dass eine massenhafte Datenabschöpfung, wie sie der Geheimdienst betrieben hatte, nur unter strengen Auflagen zulässig sein könne, vor allem nur bei ausreichender demokratischer Kontrolle. Nun hat die Große Kammer des Gerichtshofs das Urteil bestätigt und weiter ausbuchstabiert, unter welchen Voraussetzungen europäische Staaten ihren Geheimdienste die Überwachung von internetbasierter Kommunikation erlauben dürfen. (Urt. v. 25.05.2021, Az. 58170/13, 62322/14 and 24969/15).
Im Wesentlichen schloss sich die Große Kammer den Grundsätzen der Entscheidung von 2018 an. Diese hatte drei wichtige Eckpfeiler der britischen Überwachungspraxis begutachtet: erstens das massenhafte und anlasslose Abfangen von Kommunikation durch die Geheimdienste, zweitens die Datenabschöpfung bei privaten Service Providern, also z.B. Internet- oder Telefonanbietern, und drittens den Informationsaustausch der Geheimdienste mit anderen befreundeten Staaten.
Die Entscheidung betraf schon damals nicht mehr die aktuelle Rechtslage, da die Regierung als Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen und die nachfolgende Kritik mit dem Investigatory Powers Act 2016 ein neues Überwachungsgesetz verabschiedet hatte. Die Entscheidung des EGMR bezog sich dagegen noch auf das zuvor geltende Regelwerk. Nichtsdestotrotz hat sie konkrete Auswirkungen für die Arbeit von Geheimdiensten, ihre Kontrolle und die Gesetzgebung. Der EGMR hat zahlreiche Sicherungen unterstrichen, auf die die Nationalstaaten nun ihre Gesetze zur Geheimdienstarbeit überprüfen dürften.
Es kommt auf die Sicherungen an
Wenig überraschend hat der EGMR noch einmal klar gestellt, dass eine anlasslose Massenüberwachung zunächst einmal nicht unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei - es kommt eben auf die Sicherungen an. Ganz ähnlich hatte auch das BVerfG sich zur Verfassungsmäßigkeit der Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND) 2020 geäußert. Ein Urteil, auf das sich der EGMR ausdrücklich bezieht.
Auf den über 200 Seiten zeigt der EGMR, wie die Menschenrechte der EMRK sich konkretisieren lassen in sehr konkrete und technische Vorgaben des Datenschutzrechts. Anschaulich fordert der EGMR eine "end-to-end"-Absicherungen, das heißt in allen Schritten des Überwachungsvorgangs braucht es Kontrolle. Angefangen beim Anordnen und Begründen eines Suchbegriffs, mit dem ein Datenstrom etwa auf eine E-Mail-Adresse oder einen Internetanschluss gefiltert werden soll, bis hin zur parlamentarischen Kontrolle und der Möglichkeit für nachträglichen Rechtsschutz. Zusätzlich verlangt der EGMR Sicherungen beim Schutz von vertraulichem Material von Journalistinnen und Journalisten.
Die vormaligen Praktiken des britischen Geheimdienstes aus der Snowden-Ära im Zusammenhang mit dem Abfangen von Daten und der Abschöpfung bei Providern hätten sowohl gegen das Recht auf Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 der EMRK als auch gegen deren Art. 10 verstoßen, der u. a. die Pressefreiheit schützt. Das Votum, welches die Datenabfragen bei anderen Staaten billigte, ging nur mit zwölf zu fünf Stimmen aus, die Kritiker fügten dem Urteil eine abweichende Ansicht an.
Diese Sondervoten enthielten teils dramatische Appelle: Die Richter Lemmens, Vehabović und Bošnjak zitierten aus George Orwells Überwachungsszenario in seinem Roman "1984". Der portugiesische EGMR-Richter Pinto de Albuquerque beendete seine abweichende Meinung mit den Worten: "Das gegenwärtige Urteil des Straßburger Gerichts hat die Tore geöffnet für ein elektronisches 'Big Brother' in Europa." Ihm bereitet vor allem Sorgen, dass die Mehrheit der EGMR-Richterinnen und -Richter nicht den Datenaustausch europäischer Geheimdienste mit Drittsstaaten beanstandet hat.
Auch ein Verfahren aus Deutschland liegt noch beim EGMR
Auch Facetten der deutschen Internet-Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst beschäftigen den EGMR. Geklagt hatten die Organisation Reporter ohne Grenzen und der Berliner Rechtsanwalt Niko Härting gegen Einzelheiten der strategischen Überwachung mit Inlandsbezug. Anfang 2021 wurde bekannt, dass der Gerichtshof die Beschwerde zur Entscheidung angenommen und der Bundesregierung einen Fragenkatalog zu dem Verfahren geschickt hatte. Nachgefragt haben die Richterinnen und Richter insbesondere, ob es nach dem deutschen System auch Rechtsschutz für diejenigen gibt, deren Daten zwar erfasst, dann aber wieder gelöscht werden.
Die EGMR-Entscheidung fügt sich ein in eine Reihe von Grundsatzentscheidungen zur Überwachung durch Geheimdienste in Europa. 2020 urteilte das BVerfG zur Auslandsüberwachung des BND, erstreckte den Grundrechtsschutz vor deutscher Überwachung auch auf Menschen im Ausland – und sorgte damit für eine grundlegende Reform des BND-Gesetzes. Auch die sogenannten "Schrems"-Urteile des Europäischen Gerichtshof (EuGH) gehören in diese Reihe. Der Datenschützer Max Schrems klagte gegen die Übermittlung der Daten von Europäerinnen und Europäern in die USA, er befürchtete vor allem, dass US-amerikanische Sicherheitsbehörden Daten abschöpfen könnten, denn die Sicherheitsvorgaben in den USA sind weniger streng als die europäischen Regeln. Der EuGH musste sich deshalb vor allem damit beschäftigen, welche europäischen Datenschutzstandards und welche Sicherungen zur Überwachung er auch außerhalb der EU verwirklicht sehen will.
Ein Anstoß aus Karlsruhe?
Denn es ist klar: Strenge nationale oder gar europäische Überwachungsregeln bringen wenig, wenn E-Mails oder Messenger-Nachrichten deutscher und europäischer Bürgerinnen und Bürger auf ihrem Weg durch Kabelleitungen auch Staaten passieren, deren Geheimdienste eine gänzlich andere Vorstellung von Datenschutz und möglicherweise sogar von Rechtsstaatlichkeit haben. Grundrechtsgefährdungen durch Internetüberwachung stehen hier vor entgrenzten Herausforderungen.
Auch dem BVerfG wird bewusst gewesen sein, dass es mit seiner Entscheidung 2020 nicht nur ein Urteil zum Grundgesetz treffen, sondern zugleich einen Baustein liefern würde zu einer europäischen Maßstabsfindung. Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Johannes Masing, der als Berichterstatter maßgeblich Autor der 2020er Entscheidung war, hatte in einem Aufsatz schon 2018 geschrieben: "Vielleicht kann der Versuch einer gewissen innerstaatlichen Einhegung der Befugnisse ein Impuls sein, hier mittelfristig internationale Entwicklungen anzustoßen, die anders nicht zu erwarten sind."
Der EGMR hat mit seiner Entscheidung einen weiteren Beitrag zu einer solchen internationalen Entwicklung geliefert.
EGMR-Grundsatzurteil: . In: Legal Tribune Online, 26.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45043 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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