2/2: Keine „verkappte Euthanasie“
Die streng katholischen Eltern und zwei Geschwister des Patienten klagten daraufhin vor dem EGMR. Für sie ist Lambert schwerstbehindert. Sie sahen daher in dem geplanten Stopp der lebensverlängernden Maßnahmen eine „verkappte Euthanasie“ und hielten die Pläne daher unter anderem für einen Verstoß gegen das Recht auf Leben, Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Das sahen die Richter des EGMR anders und entschieden für das Recht des Patienten, zu sterben. Das Gesetz und seine Anwendung durch den französischen Staatsrat stünden im Einklang mit Art. 2 EMRK. Im vorliegenden Fall sei es auch nicht um Euthanasie gegangen, sondern um den Entzug künstlich lebensverlängernder Maßnahmen.
Dabei hoben die Straßburger Richter hervor, dass sie sich bewusst waren, dass in diesem Fall sehr komplexe medizinische, rechtliche und ethische Probleme zusammen kämen. Da der Patient selber seinen Wunsch nicht mehr äußern könne, hätten zwangsweise die Familienmitglieder ihre Wünsche für ihn zum Ausdruck bringen müssen – diese seien in diesem Fall nur sehr gegensätzlich.
Französisches Urteil im Einklang mit Art. 2 EMRK
Die Rolle der Straßburger Richter liege lediglich darin, zu überprüfen, ob Frankreich die aus Art. 2 EMRK erwachsenen Verpflichtungen eingehalten habe. Denn das Recht auf Leben garantiere auch, dass der Staat die positive Pflicht habe, das Leben seiner Bürger zu schützen.
Das französische Gesetz sei, so wie es vom Staatsrat interpretiert wurde, eine mit Art. 2 EMRK kompatible, ausreichende Gesetzesgrundlage, um die Entscheidungen der Ärzte, die in Fällen wie diesen getroffen werden, zu regeln. Das französische Gericht habe sich daher versichern müssen, ob die Entscheidung, die Behandlung abzubrechen, mit den nationalen Regelungen kompatibel sei und den Patientenwunsch im Einklang mit dem dortigen Recht erfülle.
Dies sei in diesem Fall geschehen. Der Staatsrat habe den Fall in aller Tiefe behandelt und alle Aspekte ausreichend berücksichtigt. Insbesondere seien alle Sichtweisen, also der mutmaßliche Wunsch des Patienten, der der Angehörigen und die Ansicht der Ärzte, im Laufe des Prozesses angemessen zur Geltung gekommen. Obwohl am Ende Zweifel verblieben seien, habe der Staatshof die Entscheidung getroffen, die den Interessen des Patienten am besten diene.
Das Urteil der Straßburger Richter ist endgültig, eine Berufung dagegen nicht möglich.
Sterbehilfe in Europa
Für die Deutschen Stiftung Patientenschutz ist dieser Streit um Sterbehilfe "ein Trauerspiel". Ein Fall wie Vincent Lambert, bei dem sich die Angehörigen nicht einig sind, sei auch in Deutschland denkbar, wenn keine wirksame Patientenverfügung vorliege, sagte Vorstand Eugen Brysch der Deutschen Presse-Agentur. Er schätzt die Zahl der Wachkoma-Patienten in Deutschland auf etwa 10 000 Personen.
Aktive Sterbehilfe, also einem Menschen ein tödlich wirkendes Mittel verabreichen, ist in Deutschland und Frankreich wie in den meisten europäischen Ländern verboten. Erlaubt ist in Deutschland, ähnlich wie in Frankreich, passive Sterbehilfe, bei der Ärzte lebenserhaltende Maßnahmen abbrechen und etwa das Beatmungsgerät abschalten.
In der Europäischen Union erlauben nur die Niederlande, Luxemburg und Belgien ausdrücklich die Tötung auf Verlangen. Außerhalb der EU ist es in der Schweiz gesetzlich erlaubt, sterbenskranken Menschen auf Wunsch tödliche Mittel anzubieten, die sie dann selbst einnehmen. In Belgien ist seit 2002 ein Sterbehilfe-Gesetz in Kraft, das als besonders liberal gilt. Es erlaubt erwachsenen, unheilbar kranken Patienten die Tötung auf Verlangen, sofern Ärzte ihnen unerträgliche Leiden bescheinigen. Anfang 2014 dehnte das Parlament die Sterbehilfe auf todkranke Minderjährige aus, wenn die Eltern zustimmen.
Mit Materialen von dpa
Anne-Christine Herr, EGMR billigt Sterbehilfe für Wachkomapatienten: . In: Legal Tribune Online, 05.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15764 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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