Corona-Pandemie: Kon­trolle in der Aus­nah­me­si­tua­tion

Gastkommentar von Dr. Philip von der Meden

27.03.2020

Verschiedene Fachverbände haben Leitlinien veröffentlicht, an denen sich Ärzte im Triage-Fall orientieren sollen. Diese Empfehlungen sind sinnvoll. Doch sie müssen im Ernstfall auch zur Anwendung kommen, fordert Philip von der Meden.

Unerträgliches hört man aus Italien. Schwerkranke Menschen, mit der Hoffnung auf Heilung ins Krankenhaus gebracht, werden zum Sterben weggeschickt. Die intensivmedizinischen Kapazitäten reichen nicht aus. Dilemmata, die Juristen bislang vor allem aus den Lehrbüchern kannten, werden grausame Realität. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, Totgeweihte auszusortieren. Ich hoffe, vor allem für unsere Ärzte, dass es in Deutschland niemals soweit kommen wird, dass die Realität unsere moralischen und rechtlichen Grenzen bricht. 

Die Zahl der Toten einer Pandemie belastet die Gesellschaft schon genug. Nur schwer vorstellbar ist da auch noch die erzwungene Aufgabe eines eisernen grundrechtlichen Prinzips, des Verbots der Abwägung von Leben gegen Leben. Die gegenwärtigen grundrechtlichen Einschränkungen sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Sie schützen nicht nur Leib und Leben der Bevölkerung. Sie dienen auch der Wahrung der Menschenwürde – von Patienten, Ärzten, Pflegern und anderen, denen wir die Entscheidung über Leben und Tod nicht aufdrängen dürfen.

Ärzte nicht allein lassen

Till Zimmermann hat an dieser Stelle vor wenigen Tagen zu Recht gemahnt, dass wir Ärzte nicht allein lassen dürfen, falls das Ungeheuerliche Wirklichkeit wird. Wir neigen dazu, in der festen Hoffnung auf das Ausbleiben der Katastrophe zu verharren und die Augen zu verschließen vor dem, was nicht sein soll. Aber wenn es doch so weit kommt wie in Italien, dann brauchen unsere Ärzte die vorbehaltlose Unterstützung normativer Maßstäbe. Es kann niemandem zugemutet werden, nach freiem Ermessen und ohne Einbindung in ein rationales System über Leben und Tod entscheiden zu müssen.

Es steht leider zu befürchten, dass der Gesetzgeber sich dieser Aufgabe schweigend entziehen wird. Weil nicht sein kann, was nicht sein soll, werden im Fall der Fälle die Helfer im luftleeren Raum des normativen Nichts so verlassen sein wie die Patienten, die sie zum Sterben wegschicken. In dieser Situation haben nun gestern verschiedene Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen veröffentlicht, in denen sie sich auf grundlegende Regeln geeignet haben, an denen sich Ärzte orientieren sollen, falls die intensivmedizinischen Plätze nicht zur Versorgung aller Patienten ausreichen. Die dort genannten Differenzierungskriterien sind nachvollziehbar. Sie orientieren sich ausschließlich an der medizinisch begründeten Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolgs und insbesondere nicht am Kriterium des Patientenalters. 

Entscheiden – aber wie?

Die Entscheidung, wie erfolgversprechend eine Behandlung ist, ist eine ärztliche Entscheidung. Sie kann nur mit entsprechender Expertise getroffen werden und wird immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sein. Sie ist trotzdem ein naheliegendes Differenzierungskriterium, wenn mehr Patienten die Notaufnahmen füllen als Betten mit Beatmungsgeräten zur Verfügung stehen. Damit ist über ihre rechtliche Zulässigkeit noch nichts gesagt. Aber sicher ist: Wenn eine Abwägungsentscheidung überhaupt zulässig sein soll, dann müssen die Entscheider sie in einem fairen Prozess treffen.  

Die Empfehlungen der Fachgesellschaften sind unzureichend, weil sie nur die Regeln benennen, aber über den Prozess der Regelfindung schweigen. Gerade dieser Prozess ist aber in der nie geprobten Ausnahmesituation äußerster emotionaler und physischer Belastung besonders wichtig. Unter Stress entscheiden Menschen häufig intuitiv – intuitive Entscheidungen wären jedoch eine erhebliche Gefahr für das nichtdiskriminierende Prinzip, das sich die Fachgesellschaften selbst gesetzt haben und das für den Fall einer schweigenden Legislative rechtlichen und moralischen Standards genügen muss. 

Erste Stichpunkte: Prozessanforderungen

Wie könnte also ein solcher Prozess zur Entscheidungsfindung für Ärzte aussehen? Welche Mindestanforderungen müsste er gewährleisten, um dem Prinzip einer optimalen medizinischen Versorgung der Bevölkerung im Mangelfall gerecht zu werden und Strafverfolgungsrisiken der Entscheider zu minimieren? Vielleicht so:

  • Definition eines Bezugsrahmens (welche Krankenhäuser gelten als "Einheit", sodass die gemeinsamen Kapazitäten die Grundlage für Behandlungsentscheidungen sind?)
  • Sicherstellung, dass der Bezugsrahmen eingehalten wird, also ein ständiger krankenhausübergreifender Abgleich der Behandlungsressourcen
  • Sicherstellung, dass die Entscheider über eine vollständige Entscheidungsgrundlage verfügen, d.h. alle bedürftigen Patienten berücksichtigen, die Teil des Bezugsrahmens sind, etwa mittels einer Patientenliste
  • Sicherstellung, dass die Entscheider nicht aus familiären oder persönlichen Gründen "befangen" sind, sie insbesondere keine persönliche Bindung zu (möglichen) Patienten haben
  • Sicherstellung, dass Entscheider zwar über alle medizinisch relevanten Daten verfügen, aber nicht persönlich der Behandler waren (Gefahr einer emotionalen Beeinflussung der Abwägungsentscheidung nach persönlichem Kontakt), also im besten Fall eine strikte Trennung zwischen Behandler und Entscheider, jedenfalls aber die Einbeziehung einer nicht in die Behandlung involvierten Person
  • Andauernde Überwachung des Prozesses und ggf. kurzfristige Anpassung und Verbesserung
  • Dokumentation des Prozesses durch dafür separat abgestelltes Personal, dass die Behandler entlastet.

Abbruch von Behandlungsmaßnahmen?

Die Empfehlungen der Fachgesellschaften lassen – nach meinem Verständnis – sogar den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen eines Patienten zu, der intensivmedizinisch betreut wird, wenn sich herausstellt, dass ein anderer Patient bessere Überlebenschancen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob die Fachgesellschaften die Tragweite dieser Entscheidung vollständig verinnerlicht haben. Der aktive Behandlungsabbruch gegen den Willen des Patienten ist nach geltendem Recht eine vorsätzliche Tötungshandlung und dem dringenden Verdacht der Strafbarkeit ausgesetzt.

Gerade für diese Konstellation sind die vorgeschlagenen Abwägungskriterien in der jetzigen Form unzureichend, wenn sich die Behandler nicht schwerwiegender strafrechtlicher Risiken aussetzen wollen. So wird jedenfalls nicht bloß eine verhältnismäßig bessere Überlebenschance eines neu eingelieferten Patienten den Abbruch der Behandlung eines anderen rechtfertigen können. Sollte trotzdem – in der absoluten Ausnahmesituation einer vollständigen Überlastung des Gesundheitssystems – auch der aktive Behandlungsabbruch nach einer Interessenabwägung für zulässig erachtet werden, braucht es besonders dringend Entscheidungshilfen, die der Gefahr vorbeugen, dass auch erfolgversprechende Behandlungen abgebrochen werden, weil scheinbar noch besser zu behandelnde Patienten den Platz benötigen. Eine weitere Regel, eine letzte Bekräftigung der Menschenwürde im Chaos, müsste deshalb  lauten:

  • Im Zweifel für die Fortsetzung einer bereits begonnenen Behandlung.

Noch ist Zeit. Hoffen wir das Beste, aber erwarten wir das Schlimmste. Bereiten wir uns vor, auch normativ. 

Der Autor Dr. Philip von der Meden ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in der Kanzlei Fuhlrott Hiéramente & von der Meden (FHM) in Hamburg. Er promovierte an der Bucerius Law School in Rechtsphilosophie.

Zitiervorschlag

Corona-Pandemie: . In: Legal Tribune Online, 27.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41129 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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