Mediziner wollen mit landesweiten Obduktionen mehr über das Coronavirus erfahren. Dafür sollen Hamburger Juristen die rechtlichen Risiken ausloten. John Heidemann über Pietät, Religion und wie eine Schattennorm plötzlich Beachtung gewinnt.
LTO: Herr Heidemann, Sie sind Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinrecht der Bucerius Law School in Hamburg und arbeiten dort am Verbundprojekt "DEFEAT PANDEMIcs", welches zu einem nationalen Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zur Covid-19-Pandemie gehört. Was genau verbirgt sich dahinter?
John Heidemann: Es geht darum, ein Netzwerk zu schaffen, in dem Ergebnisse von Obduktionen an Covid-19-Verstorbenen gesammelt und gebündelt werden. Neben Wissen über das Virus sollen auch Empfehlungen zur Durchführung von Obduktionen bei Covid-19-Patienten erarbeitet werden. Dabei geht es um Schutzmaßnahmen und Möglichkeiten zur minimalinvasiven Obduktion oder den Standard der Proben.
Wer steht hinter diesem Projekt?
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert unser Projekt mit sieben Millionen Euro. Es handelt sich um ein sehr weitreichendes Netzwerk, an dem insgesamt 27 Unikliniken sowie weitere Institutionen wie etwa das Robert-Koch-Institut beteiligt sind.
Sie sitzen in Hamburg. Eben dort wurden zu Beginn der Pandemie bereits zahlreiche Obduktionen durchgeführt, worüber viel in den Medien zu lesen war.
Ja, darauf geht dieses Projekt tatsächlich zurück. Die Möglichkeit, mittels behördlichen Obduktionsanordnungen mehr über das Coronavirus zu erfahren, ist auch als "Hamburger Weg" bekannt geworden. Hier wurde erkannt, was ein solches Forschungsnetzwerk überhaupt für die Pandemiebekämpfung bringen kann. Professor Klaus Püschel vom Hamburger Universitätsklinikum hat diese Idee dann ins Leben gerufen. Am Hamburger Klinikum wurden, auf entsprechende behördliche Anordnung hin, umfassend Obduktionen an Covid-19-Verstorbenen durchgeführt, teilweise auch ohne die Zustimmung der Angehörigen, wodurch sehr bedeutende Erkenntnisse zu Krankheitsverlauf, Risikoermittlung und Therapieverbesserungen gewonnen wurden.
"Hamburger Weg" bislang einzigartig
Sie wollen nun laut ihrer Website "brach liegende Potentiale für einen insgesamt verhältnismäßigen Infektionsschutz" heben. Was genau meinen Sie damit?
In der Pandemie hat sich gezeigt, dass Obduktionen eine wichtige Rolle in der Bekämpfung spielen können. Es geht nun darum, die einheitliche Durchführung umfangreicher Autopsie-Kohorten zum Infektionsschutz bundesweit zu implementieren, um im weiteren oder zukünftigen Pandemieverläufen relevante Daten erheben zu können und diese in einem für die Forschung zugänglichen Obduktionsregister zu sammeln. Unser Hauptaugenmerk ist dabei die Schaffung von Rechtssicherheit für die Pathologen, denn Obduktionen berühren einen rechtlich sensiblen Bereich.
Wie viele Obduktionen wurden denn bisher an Covid-19-Verstorbenen durchgeführt?
In Hamburg waren es über 200, also bei fast allen Verstorbenen. Deutschlandweit waren es aber sicherlich mehr. Teil unseres Projekts ist es, auch zu untersuchen, inwieweit andere Länder diesen "Hamburger Weg", ggfs. in einer abgeschwächten Form, ebenfalls verfolgt haben. Deutschlandweit hat aber bis zu Beginn der zweiten Welle wohl keine Obduktionskohorte in diesem Ausmaß stattgefunden wie in Hamburg.
Wir schauen uns dabei auch an, auf welche Rechtsgrundlage man sich gestützt hat. Neben dem Infektionsschutzgesetz, welches hier in Hamburg hauptsächlich zur Anwendung gekommen ist, gibt es auch die Möglichkeit, eine Pandemie-Sektion auf Landesgesetzgebung zu stützen, wo die Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind.
Woher rührt überhaupt die Zuständigkeit des Bundes, um ein deutschlandweites Obduktionsnetzwerk aufbauen?
Das Sektionsrecht gehört als Teil des Bestattungsrechtes zunächst in den Kompetenzbereich der Länder. Allerdings gibt es Ausnahmen, wenn andere Bundeskompetenzen betroffen sind. Der Bund hat beispielsweise Kompetenzen im Bereich des Infektionsschutzes. Für diese speziellen Bereiche kann der Bund dann einheitliche Regelungen zur Durchführung von Sektionen erlassen, wovon er durch § 25 Abs. 4 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) Gebrauch gemacht hat, der auch Hauptaugenmerk unserer rechtlichen Betrachtung ist.
"Wann ist eine Obduktion zur Pandemiebekämpfung nötig?"
Warum braucht es nun eine besondere Rechtsgrundlage, um Obduktionen durchzuführen? Die Prozedur war ja auch schon vor der Pandemie geläufig.
Tatsächlich gar nicht so sehr, die Zahlen sind seit Jahren eigentlich rückläufig. Obduktionen zur medizinischen Ausbildung oder klinische Sektionen erfolgen zudem nur mit Zustimmung des Betroffenen oder dessen Angehörigen, was aber bei Pandemie-Sektionen nicht unbedingt der Fall sein muss. Daher arbeitet man hier in einem sensiblen Bereich, wo Grundrechte des Verstorbenen wie auch der Angehörigen betroffen sein können. Deshalb braucht es eine ganz klare Rechtfertigung dieses Eingriffs.
Aufgrund des Infektionsschutzes sind dann also "Zwangsobduktionen" gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen möglich?
Genau, aufgrund einer behördlichen Anordnung. Dafür muss das Gesundheitsamt die Obduktion nur für erforderlich halten.
Ist das in Pandemie-Zeiten nicht praktisch immer der Fall?
Das ist genau die Frage, um die es geht: Wann ist eine Obduktion zur Bekämpfung der Pandemie erforderlich? Man braucht ja keine Obduktion, um eine Infektion nachzuweisen. Die zu stellende Frage ist also: Welches Ziel muss mit der Obduktion verfolgt werden, damit der Eingriff verhältnismäßig ist?
Gibt es also ein Recht, sich nicht obduzieren zu lassen? Könnte ich das in meine Patientenverfügung schreiben?
Ja, das gibt es grundsätzlich und das könnten Sie. Dieses Recht ist Teil des postmortal fortwirkenden Grundrechtschutzes. Wenn der Verstorbene keine Regelungen diesbezüglich getroffen hat, was meistens der Fall ist, kann dieses Recht auch durch die Angehörigen geltend gemacht werden, welche jedoch den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen berücksichtigen müssen. Außerdem spielt die Religionsfreiheit eine wichtige Rolle.
Kollision mit strenger Religiosität
Gibt es denn Religionen, die damit ein grundsätzliches Problem haben?
Im Laufe des "Hamburger Wegs" hat sich gezeigt, dass Obduktionen vor allem mit einer streng ausgeübten Religiosität kollidieren können. Das betraf vor allem Verstorbene, die der islamischen Religion zugehörig waren, wo es klare Bestattungsregeln gibt und die Bestattungen deutlich schneller als etwa im Christentum durchgeführt werden müssen. Aber auch im Judentum werden z. B. rituelle Reinigungen verlangt, die mit einer Obduktion in Konflikt geraten können.
Es stehen also die Religionsfreiheit und das Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen gegen einen solchen Eingriff. Wie lässt er sich dennoch rechtfertigen?
Zunächst einmal muss ein klarer Bezug zum Infektionsschutz da sein, etwa wenn die Erkenntnisgewinne wichtig für die Entwicklung eines neuen Therapieansatzes sind. Das betrifft aktuell die Gesundheit von sehr vielen Menschen. Neben lebensbedrohlichen Erkrankungen sind auch die Langzeitschäden zu bedenken, die bei vielen nach einer Infektion bleiben könnten. Diese könnte mit Hilfe von Obduktionen besser erforscht werden.
Dementsprechend wollen wir die Brücke, die man zwischen Recht und Wissenschaft schlagen muss, in den Vordergrund rücken: Es muss ganz klar festgelegt sein, welcher epidemiologische Zweck gefördert wird und dass Seuchenobduktionen nicht bloß zur reinen Grundlagenforschung dienen dürfen. Zudem spielt auch das aktuelle Infektionsgeschehen eine Rolle. Wenn bei nur noch geringen Fallzahlen am Ende einer Pandemie solche Maßnahmen weitläufig angeordnet würden, sähe ich ein deutlich geringeres Schutzinteresse zugunsten des Lebens und der Gesundheit als im Moment.
Könnte eine solche Praxis, die Obduktionen zum Gesundheitsschutz anderer erlaubt, in Zukunft auch noch weiterführen? Besteht die Gefahr, dass ich mich bald kaum noch dagegen wehren kann, nach dem Tod seziert zu werden, wenn dadurch Erkenntnisse über Krankheiten gewonnen werden können?
Wir haben hier einen ganz klar gesetzten Rahmen. Es muss sich um Infektionskrankheiten handeln, die abschließend im IfSG bestimmt sind. Die Gefahr, dass bald jeder erkrankte Patient obduziert würde, ist daher faktisch nicht gegeben.
"Mit einer Pandemie ist nicht alles zu rechtfertigen"
Sie untersuchen vornehmlich die Rechtsgrundlage in § 25 des IfSG. Gibt es dort besonders kritische Punkte, die Ihnen Bauchschmerzen bereiten?
Es gibt mehrere kritische Punkte. Zum einen die Tatsache, dass nach Absatz 4 die einzige Voraussetzung für eine Obduktion ist, dass das zuständige Gesundheitsamt sie für erforderlich hält. Das ist ein sehr auslegungsbedürftiges Tatbestandsmerkmal. Hier muss eine ganz konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden, was es eventuell nötig macht, die Begutachtung des Gesundheitsamtes mit weiteren Prüfungsebenen im Gesetz zu konkretisieren. Eine Idee wäre es zum Beispiel, gewisse Rückbegrenzungen für die Eingriffserlaubnis des Staates zu diskutieren, um Betroffenenrechte besser berücksichtigen zu können.
Mit der Pandemie lässt sich also nicht pauschal alles rechtfertigen?
Nein, definitiv nicht. Die derzeitige Gesetzeslage beschreibt ja bereits, dass eine Erforderlichkeitsprüfung seitens des Gesundheitsamtes durchzuführen ist und der bloße Verweis auf den Infektionsschutz für Anordnungen von Obduktionen nicht ausreichend sein kann.
Und die übrigen Angriffspunkte?
Es gibt auch ganz praktische Dinge, etwa dass je nach Bundesland zwei Behörden - nämlich neben dem Gesundheitsamt noch eine nach Landesgesetz für die Anordnung zuständige Behörde - beteiligt sein könnten. Das könnte einen nicht unerheblichen bürokratischen Mehraufwand bedeuten, den man in Frage stellen kann.
Außerdem gibt es – im Gegensatz zum Landesrecht – im IfSG gar keine Durchführungsbestimmungen zu den Obduktionen. Es wäre ein wichtiges Signal an die Bevölkerung, deutlich zu machen, dass es hierfür klare Vorgaben gibt und pietätvoll mit dem Leichnam umgegangen wird. In der Praxis wird der Leichnam anschließend wieder verschlossen und kann auch aufgebahrt werden. So können auch nach einer Obduktion Bestattungsrituale durchgeführt werden.
Wenn die Rechtsgrundlagen, die sie nun untersuchen, nicht tragfähig wären, was wäre die Konsequenz? Droht Pathologen ein persönliches Haftungsrisiko?
Nein, den Pathologen kann man keinen Vorwurf machen, denn diese halten sich ja an eine gesetzliche Vorgabe. Die Frage ist eher, ob diese für die Zukunft angepasst und konkretisiert werden muss, um dem Schutz der Betroffenen nachzukommen und das brachliegende Potential von Obduktionen in der Pandemie zu nutzen. Aber es ist normal, dass nachgebessert werden muss, denn das IfSG wird gerade in seiner Konsistenz das erste Mal wirklich umfassend geprüft.
Wie wird das Ergebnis Ihrer Arbeit aussehen? Wollen Sie ein neues, besseres Gesetz vorschlagen?
Die Konkretisierung des Gesetzes ist eine denkbare Möglichkeit. Es ist aber noch zu früh, um sich insoweit festzulegen. Und was wir in die Wege leiten wollen, wird natürlich Professor Gaede (Direktor des medizinrechtlichen Instituts, d. Red.) mitbestimmen, der bei diesem Projekt federführend ist. Geplant ist aber in jedem Fall, unsere Ergebnisse und Empfehlungen zu publizieren, um die Problematik in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken.
John Heidemann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinrecht der Bucerius Law School in Hamburg. Er unterstützt Prof. Dr. Karsten Gaede bei dem Projekt "DEFEAT PANDEMIcs".
Die ersten Ergebnisse der Hamburger Untersuchung werden nach Auswertung der derzeit erhobenen empirischen Daten voraussichtlich im kommenden Jahr publiziert.
Interview zu Corona-Obduktionen: . In: Legal Tribune Online, 15.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43743 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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