Corona und Arbeitsschutz in der Fleischindustrie: Schwein gehabt?

von Dr. Michael Winkelmüller

18.05.2020

Deutschland atmet auf: Die Wirtschaft fährt wieder hoch. Warum die Lockerungen allein den Unternehmen keine Rechtssicherheit bringen, zeigt Michael Winkelmüller - am Beispiel des Arbeitsschutzes in Schlachthöfen und Landwirtschaft.

In der Diskussion um die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus SARS-CoV-2 wird häufig ein Gegensatz aufgebaut: entweder der Lockdown zum Schutz von Leben und Gesundheit – oder die Offenhaltung der Wirtschaft, um Existenzverluste und eine tiefe Rezession zu vermeiden. Ein Blick in zwei in die Schlagzeilen geratene Risikobranchen zeigt, dass der Gegensatz nur scheinbar besteht. Tatsächlich setzt der wirtschaftliche Neubeginn effizienten Gesundheitsschutz in den Betrieben voraus.

Das Corona-Maßnahmenpaket von Bund und Ländern war von Anfang an mit Ungleichbehandlungen verbunden. Kernelement der Infektionsschutzmaßnahmen ist social distancing – Abstandhalten zu anderen. Viele Tätigkeiten, bei denen ein Abstand von 1,5 Metern – wie beim Friseur, bei der Massage oder im Fitnessstudio – nicht möglich oder nicht zu erwarten war, wurden verboten. Auf Großbaustellen, in Fabriken und in der Landwirtschaft wurde aber weiter gearbeitet.

Gemessen an den Zielen des Corona‑Maßnahmenpakets von Bund und Ländern war das sachgerecht: Durch die Reduzierung sozialer Kontakte soll das Tempo der Neuinfektionen verringert werden. Es gilt, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern: Die Zahl der Neuinfizierten mit schweren Krankheitsverläufen soll unterhalb der Zahl der verfügbaren Intensivmedizinplätze bleiben.

Zweitens soll die Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten bleiben. Lebensmittelhandel, Einrichtungen des Gesundheitssystems und andere systemrelevante Betriebe sollten selbstverständlich fortgeführt werden, auch wenn Schutzeinrichtungen wie die inzwischen selbstverständlich gewordenen Plexiglasscheiben an den Kassen noch unbekannt und Masken, Schutzanzüge und andere persönliche Schutzausrüstungen selbst in Krankenhäusern bei weitem nicht ausreichend verfügbar waren.

Drittens sollen gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen so weit wie möglich abgemildert werden. Nicht nur kritische Infrastrukturen wie Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Finanzwesen, öffentlicher Personen- und Güterverkehr, Medien und die staatliche Verwaltung sollten weiterlaufen – sondern wo immer das möglich war auch Industrie, Handwerk und Handel.

Betriebsfortführung – nur wie?

Für Unternehmen, für die in den Corona-Verordnungen keine zwingenden Vorgaben getroffen wurden, herrschte sofort große Rechtsunsicherheit. Denn für sie galt selbstverständlich weiterhin das Arbeitsschutzrecht. Das Risiko einer Ansteckung mit dem Virus SARS-CoV-2 und einer Erkrankung an COVID-19 sind Gefährdungen, denen Unternehmen am Arbeitsplatz entgegenwirken müssen. Nachdem die Corona-Pandemie in Deutschland angekommen war, mussten in allen Unternehmen

  • die Gefährdungsbeurteilungen aktualisiert,
  • ein Hygienekonzept geschaffen und
  • die notwendigen Arbeitsschutzmaßnahmen getroffen werden.

Wie dies in den unterschiedlichen Branchen zu bewerkstelligen war, war häufig unklar. Unklar war auch, ob die Verpflichtungen so weit gehen können, dass die Arbeit, wenn es nicht anders geht, auch ganz eingestellt werden muss.

Der erste Versuch, Rechtssicherheit durch staatliche Regelungen zu schaffen, wurde in der Landwirtschaft unternommen. Seit die Agrar-Lobby die Ernte als bedroht darstellte, gelten Ausnahmeregelungen von den Corona-Verordnungen. Die strikte Quarantänepflicht für Einreisende, die das Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) erst jetzt für alle ausgesetzt hat (Beschl. v. 11.05.2020, Az. 13 MN 143/20), galt schon länger nicht für Saisonarbeitskräfte, wenn „Vorkehrungen zur Kontaktvermeidung außerhalb der Arbeitsgruppe“ getroffen werden, die „einer Absonderung vergleichbar“ sind. Der Schutz der in Gruppen untergebrachten ausländischen Erntehelfer ist eingeschränkt, sie müssen vor allem von dem Rest der Bevölkerung isoliert werden.

Vergleichbare Probleme stellen sich vielfach auch in der Fleischindustrie. Ausländische Arbeitskräfte sind beengt untergebracht. Abstände von 1,5 Metern bei der Fließband-Arbeit in den Zerlegebetrieben sind häufig nicht vorgesehen. Der Einsatz von persönlichen Schutzausrüstungen wie Masken ist für die Arbeiter ungewohnt und wegen der Arbeitsbedingungen schwierig. Unterweisungen sind aufgrund der Sprachbarriere und dem niedrigen Ausbildungsstand teilweise wenig effektiv.

In beiden Branchen sind inzwischen Corona-Hotspots aufgetreten. Der Andrang an den Flughäfen der Herkunftsländer bei der Anreise der Erntehelfer, der Tod eines an COVID-19 erkrankten Rumänen und die bundesweit zu beobachtende hohe Zahl der Infektionen in Schlachthöfen und Zerlegebetrieben sprechen eine klare Sprache.

Rechtssicherheit durch staatliche Regelungen?

Die Problematik schlägt auch in den USA hohe Wellen: Nach Werksschließungen wegen Corona-Infektionen hat Präsident Donald Trump die Fleischwirtschaft zur „systemrelevanten Industrie“ erklärt. Das ermöglicht es theoretisch, die Arbeit in den Betrieben hoheitlich anzuordnen. Dagegen bestehen aber selbst bei den Unternehmen Vorbehalte. Auch der mit Unternehmern besetzte Rat zur Öffnung der Wirtschaft ist zurückhaltend. Die Unternehmen befürchten Schadensersatzklagen von Arbeitnehmern – oder dass die Arbeitskräfte schlichtweg nicht zur Arbeit erscheinen.

In Deutschland wäre eine hoheitliche Anordnung von Arbeit nicht zulässig. Der Staat hat grundrechtliche Schutzpflichten für Leben und Gesundheit der Bürger (Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz). Insbesondere bei sozial ungleich verteilten Machtverhältnissen wie im Arbeitsverhältnis kommen diese zum Tragen. Die allgemeinen Grundsätze des Arbeitsschutzrechts sind also verfassungsrechtlich abgesichert.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat inzwischen mit einem Arbeitsschutzstandard versucht, für die Unternehmen die erforderliche Rechtssicherheit herzustellen: Am 27. April 2020 hat es den SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard im gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlicht. Das BMAS hat aber davon abgesehen, eine verbindliche Arbeitsschutz-Verordnung zu erlassen. Auch eine durch einen Ausschuss ermittelte Arbeitsschutzregel, die mit einer gesetzlichen Vermutungswirkung einherginge, wäre in Betracht gekommen. Stattdessen ist der Standard eine unverbindliche Empfehlung.

Verantwortung der Unternehmen

Für die Unternehmen bedeutet das aber nicht, dass sie von den Empfehlungen beliebig nach unten abweichen dürfen. Das Arbeitsschutzrecht setzt zwingende Standards. Danach ist die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. Spezielle Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen sind zu berücksichtigen. Den Beschäftigten sind geeignete Anweisungen zu erteilen.  

Unterbleibt eine erforderliche Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung, drohen Bußgelder gegen das Unternehmen und gegen verantwortliche Führungskräfte. Verstöße gegen arbeitsschutz- und infektionsschutzrechtliche Pflichten können sogar strafrechtliche Folgen haben: Kommt es durch einen Verstoß zur Gesundheitsschädigung oder gar zu einer Tötung, kann dies den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 Strafgesetzbuch, StGB) beziehungsweise der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) erfüllen.

Gerade Unternehmen, in denen Arbeitsschutz grenzwertig gehandhabt oder schlichtweg nicht beachtet wird, müssen bei der Umsetzung dringend aufholen. Lobby-Bemühungen für staatliche Ausnahmeregelungen ändern daran nichts. In den Corona-Hotspots werden Behörden den Arbeitsschutz und den Infektionsschutz verstärkt kontrollieren; bei Verstößen drohen neben Sanktionen Maßnahmen bis zur Betriebsschließung. Es wird deutlich: Ein Wiederhochfahren der Betriebe ist nur gleichzeitig mit einem intensiven Arbeitsschutz durch die Unternehmen selbst möglich.

Der Autor Dr. Michael Winkelmüller, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht, ist Partner bei Redeker Sellner Dahs. Er ist Leiter der Praxisgruppe Compliance und spezialisiert auf Arbeitsschutz, Umweltschutz und Gesundheitsschutz.

Beteiligte Kanzlei

Zitiervorschlag

Corona und Arbeitsschutz in der Fleischindustrie: . In: Legal Tribune Online, 18.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41643 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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