BVerwG : Kein islamisches Gebet an Berliner Gymnasium

von Thomas Traub

30.11.2011

Die Schulleitung verbot einem Berliner Gymnasiasten, in seiner Schule das Mittagsgebet nach islamischem Ritus zu praktizieren. Er hat dagegen geklagt und am Mittwoch vor dem BVerwG verloren. Thomas Traub über religiöse Konflikte in der Schule und ein Urteil, das ein klares "Nein, aber" ist.

Im November 2007 praktizierte der muslimische Schüler an einem Berliner Gymnasium zum ersten Mal das rituelle islamische Gebet. Er und sieben seiner Mitschüler knieten sich in einer Pause im Schulflur auf ihre Jacken, die als Ersatz für einen Gebetsteppich gen Mekka ausgerichtet waren, und erfüllten ihre religiöse Pflicht: das Mittagsgebet als eines von fünf festen, jeweils am Stand der Sonne orientierten Gebetszeiten. Die Schulleiterin untersagte dem Schüler die demonstrative Ausübung religiöser Riten in der Schule.

Sie berief sich dabei darauf, dass die demonstrative Ausübung der Religionsfreiheit durch das islamische rituelle Gebet religiöse Konflikte in der Schule hervorrufen oder verschärfen könne.

Die Schülerschaft der betroffenen Berliner Schule setzt sich aus 29 Herkunftsnationalitäten zusammen. Es sind allein drei verschiedene muslimische und fünf christliche Glaubensrichtungen vertreten.

Die Schulleiterin berichtete, dass während des Ramadan eine Schülerin als "minderwertige Muslimin" zurechtgewiesen wurde, weil sie einen Müsliriegel in der Cafeteria gekauft hatte. Deutsche Schüler seien teilweise als "Scheiß-Christen" und "Schweinefleischfresser" beschimpft und jüdische Symbole beschmiert worden. Mehrfach sollen die beteiligten Schülerinnen und Schüler ihr Verhalten damit entschuldigt haben, dass der Koran ihr Verhalten legitimiere.

Der Schulfrieden als Schranke der Religionsfreiheit

Das Bundesverwaltungsgericht gab der Schulleiterin Recht. Die entscheidende Schranke der Religionsausübung in der Schule ist der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG. Der Staat hat umfassende Befugnisse zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens.

Die Religionsfreiheit der Schüler einerseits und der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag andererseits müssen, so auch die Bundesrichter, zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden. 

Der Staat ist berechtigt, Maßnahmen zu ergreifen, um den Schulfrieden sicherzustellen und religiös motivierte Konflikte zwischen den Schülern zu vermeiden. Es gehört zu den Aufgaben der Schulverwaltung, diesen Frieden  umfassend zu gewährleisten.

Daher durfte sie in dem Berliner Fall ein solches Verbot sogar gegenüber einem muslimischen Schüler aussprechen, der persönlich offenbar gar nicht in die Vorfälle verwickelt war, die sich an der Schule zugetragen hatten.

Die innere und äußere Freiheit der Religion

Die Leipziger Richter betonen in ihrer aktuellen Entscheidung aber, dass die Schulverwaltung nicht generell untersagen kann, in der Schule Gebete zu verrichten. 

Der betende Schüler kann sich auf seine verfassungsrechtlich verbürgte Religionsfreiheit aus Art. 4 Grundgesetz (GG) berufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist deren Bestandteil die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben und die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten.

Über religiöse Handlungen im engeren Sinne hinaus gibt die Religionsfreiheit damit dem Einzelnen das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Er darf an den kultischen Handlungen teilnehmen, die sein Glaube vorschreibt oder in denen dieser Glaube zum Ausdruck kommt.

Grundrechte auch für minderjährige Schüler

Die Religionsmündigkeit von minderjährigen Schülern, also die Frage, ab welchem Alter Kinder ihre Rechte aus Art. 4 GG selbständig wahrnehmen können, wird allgemein in Anlehnung an das Gesetz über die religiöse Kindererziehung aus dem Jahr 1921 bestimmt. Danach kann ein Kind ab Vollendung des 14. Lebensjahrs selbst entscheiden, welchem religiösen Bekenntnis es sich anschließt.

Die Grundrechte gelten auch in der Schule. Die Vorstellung, dass es besondere Gewaltverhältnisse (zum Beispiel gegenüber Strafgefangenen, Beamten oder auch Schülern) gibt, in denen die freiheitssichernde Wirkung der Grundrechte schon im Ansatz beschränkt wird, ist längst überwunden.

Allerdings gilt die Religionsfreiheit nicht grenzenlos. Art. 4 GG selbst enthält zwar nach seinem Wortlaut keinen Gesetzesvorbehalt. Dennoch kann auch die Religionsfreiheit eingeschränkt werden, wenn sie mit  Grundrechten Dritter, aber auch anderen Gemeinschaftswerten von Verfassungsrang kollidiert.

Die Schule ist kein religionsfreier Raum

Das rituelle Gebet in der Schule steht auch nicht im im Konflikt mit der Trennung von Staat und Kirche. Zwar identifiziert der Staat sich nicht mit einer Religion. Seine religiös-weltanschauliche Neutralität aber ist nicht schon dadurch betroffen, dass Schulleiter das rituelle islamische Gebet von Schülern bloß gestatten.

Das GG verlangt keine strikte Trennung von Staat und Religion, sondern bietet sogar die Grundlage für eine positive, offene Neutralität und die Möglichkeit der Kooperation. So auch sind beim Militär, in Krankenhäusern und anderen öffentlichen Anstalten Seelsorge und Gottesdienste zugelassen,  der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach. Die Schule ist kein religionsfreier Raum.

Keine Verletzung der Grundrechte von Mitschülern und Eltern

Auch die negative Religionsfreiheit andersgläubiger Schüler wird durch das Gebet nicht tangiert. Es gibt kein Grundrecht darauf, von dem Anblick fremder Glaubensbekundungen oder von kultischen Handlungen anderer verschont zu werden. Andernfalls verkäme die Religionsfreiheit, die – wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte regelmäßig ebenso pathetisch wie treffend formuliert – "im Laufe der Jahrhunderte teuer errungen wurde", zu einem Kultusverhinderungsrecht.

Das BVerfG hat bereits entschieden, dass selbst das von der staatlichen Schulverwaltung beziehungsweise der Schulleitung angeregte und organisierte gemeinsame Schulgebet verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn es völlig freiwillig erfolgt und jeder Zwang ausgeschlossen ist (BVerfG, Beschl. v. 16.10.1979, Az. 1 BvR 647/70, 7/74).

Auch der Schutz des Erziehungsrechts andersgläubiger Eltern kann ein Verbot des Gebetes in der Schule nicht rechtfertigen. Art. 6 Abs. 2 GG garantiert den Eltern als natürliches Recht die Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Sie dürfen ihre Kinder auch in religiöser Hinsicht erziehen, wie sie es möchten.

Dabei haben sie auch das Recht, sie von Glaubensüberzeugungen fern zu halten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen. Dieses Erziehungsziel ist aber nicht gefährdet, wenn einzelne Schüler in einem dafür gesondert eingerichteten Klassenraum oder in einem bestimmten Teil des Schulflures ihr rituelles Gebet praktizieren. Den anderen Schülern ist es problemlos möglich, der Konfrontation damit auszuweichen und sich diesem Anblick zu entziehen.

Das übrigens ist der entscheidende Unterschied zum Tragen eines Kopftuches oder anderer religiöser Symbole durch eine Lehrerin. Diesem Einfluss kann der Schüler im Unterricht nicht ohne weiteres ausweichen.

Der Schüler darf weiter beten

Nur in diesem konkreten Berliner Fall durfte die Schulleiterin dem gläubigen Schüler also wegen der Gefahr für den Schulfrieden das Gebet verbieten.

Die Ausübung der Religionsfreiheit durch das islamische rituelle Gebet kann religiöse Konflikte in der Schule hervorrufen oder verschärfen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass dieses Konfliktpotential nicht nur theoretisch besteht, sondern in den Vorinstanzen auch konkret nachgewiesen wurde.

Allerdings wird auch die Religionsfreiheit des klagenden Schülers nicht völlig zurückgedrängt. Ein "stilles Gebet" außerhalb der Unterrichtszeit ist ihm weiterhin gestattet. Besteht er darauf, sein rituelles islamisches Gebet in demonstrativer Weise zu praktizieren, so steht ihm nach der Niederlage vor dem BVerwG noch der Weg zum BVerfG in Karlsruhe offen.

Thomas Traub ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung.

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Zitiervorschlag

Thomas Traub, BVerwG : . In: Legal Tribune Online, 30.11.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4943 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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