Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber aufgegeben, die Suizidassistenz neu zu regeln – passiert ist aber noch nichts. Ärzte, Angehörige und Sterbenskranke bleiben so in einer riskanten Unsicherheit zurück.
Wegweisende Urteile aller Gerichtsbarkeiten der letzten Jahre befördern die gesellschaftliche Debatte um das Thema Suizidbegleitung und Sterbehilfe. Die Frage, ob Suizidbegleitung erlaubt oder verboten sein sollte, wird von Staat und Gesellschaft schon immer kontrovers diskutiert: Wer entscheidet über das Lebensende? Gott, das Universum, der Arzt oder der Betroffene selbst? Und: Darf ich den Suizidwunsch eines Menschen akzeptieren und ihn bei seinem letzten Gang begleiten?
Die Rechtspraxis in Deutschland
Die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland gleicht einem Tauziehen zwischen Rechtssetzung und Rechtspraxis. Im letzten Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) von Ende Februar 2020, wurden dem Gesetzgeber bei der Bestrafung von Suizidassistenz deutliche Grenzen gesetzt. Die im Jahr 2015 eingeführte Strafnorm des § 217 Strafgesetzbuch (StGB) ist verfassungswidrig. Also: Bitte neu machen! … Aber wie? Gut ein halbes Jahr nach diesem Appell durch die Verfassungsrichter ist, soweit ersichtlich, nichts passiert.
Für das Strafrecht erwächst aus der gegenwärtigen Rechtslage ein besonderes Folgeproblem. Ärzte und Angehörige, die Sterbewillige begleiten, können zwar aktuell nicht mehr wegen § 217 StGB bestraft werden, riskieren aber nach der vorherrschenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Strafbarkeit wegen Tötung durch Unterlassen. Aktuell wären sie verpflichtet, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit des Suizidenten sofortige Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Umstritten ist daneben, ob einem Suizidenten die Erlaubnis zum Besitz und Erwerb von Betäubungsmitteln zum Zwecke des Suizids ausnahmsweise erteilt werden darf, das Bundesverwaltungsgericht hatte dafür 2017 den Weg frei gemacht. Der Wunsch nach einer schmerzfreien Selbsttötung, jenseits harter Methoden wie Strick, Zug, Brückensturz oder Schusswaffe, ist gerade in einer Welt, in der der Mensch immer älter wird, nachvollziehbar. Statistiken zu Folge wurden im Jahr 2019 45 Prozent aller Suizide durch Erhängen realisiert. Nicht selten finden Familienmitglieder ihre Angehörigen in diesem Szenario vor, auch weil die meisten Suizide zu Hause stattfinden.
Sterbebegleiter vor einem Dilemma
In einer mit Spannung erwarteten Entscheidung erklärte das BVerfG Anfang dieses Jahres die Norm des § 217 StGB für verfassungswidrig. Die Vorschrift der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung bestrafte, wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. Sie sollte dazu dienen, schwächere und ältere Mitglieder der Gesellschaft vor fremdbestimmter Einflussnahme und Erwartungsdruck zu schützen.
Noch wenig beachtet ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche Wertungen und Leitlinien sich für die übrigen strafrechtlichen Hürden, denen Sterbebegleiter ausgesetzt sind, ergeben. Die Abgrenzung zwischen strafloser Beteiligung am Suizid und strafbarer Fremdtötung (Tötung auf Verlangen) ist durch das Kriterium der Tatherrschaft weitestgehend geklärt. Nimmt der Suizident das todbringende Mittel selbst ein, während der Begleiter lediglich dessen Hand hält, so handelt es sich um eine straflose Beihilfe zum Suizid. Setzt aber der "Helfer" die todbringende Spritze, so handelt es sich um eine strafbare Tötung (auf Verlangen). In Fällen einer straflosen Beihilfe zum Suizid, kann nach ständiger Rechtsprechung des BGH hiervon eine doch strafbare Ausnahme zu machen sein, wenn der Sterbebegleiter eine Garantenstellung hat, also in enger Beziehung zum Suizidenten steht und nach Eintritt der Bewusstlosigkeit keine Rettungsmaßnahmen einleitet.
Betroffen sind davon Angehörige und Ärzte, die Suizidenten nicht alleine aus dem Leben scheiden lassen wollen und dem Suizid bis zum sicheren Herzstillstand beiwohnen. Sie riskieren seit 35 Jahren – seit dem sog. "Peterle-Urteil" des BGH aus dem Jahr 1984 – ein nicht unerhebliches Strafbarkeitsrisiko wegen Tötung (auf Verlangen) durch Unterlassen. Mit zwei Urteilen bestätigte der 5. Strafsenat des BGH im Jahre 2019 grundsätzlich diese Rechtsprechung, obwohl ihr seit geraumer Zeit von unterinstanzlichen Gerichten und dem strafrechtlichen Schrifttum die Gefolgschaft verweigert wurde. Wenn der Suizident "die tatsächliche Möglichkeit der Beeinflussung des Geschehens ('Tatherrschaft') endgültig verloren hat, weil er infolge Bewusstlosigkeit nicht mehr von seinem Entschluss zurücktreten kann", so hänge der Eintritt des Todes nach Ansicht des BGH jetzt allein vom Verhalten des Garanten ab, also von demjenigen, der den letzten Weg begleitet. Dieser Umstand mache den Sterbebegleiter wieder zum Täter. Den Strick zu reichen ist okay, um aber nicht strafbar zu handeln, sollte man ihn wieder durchtrennen. Suizidbegleiter durften demnach den todbringenden Cocktail reichen, mussten danach aber schnell den Raum verlassen, bevor der Suizident sein Bewusstsein verliert.
Im Ergebnis bedeutet das: Suizid ja, aber bitte alleine und einsam. Zwar hat der BGH in zwei Urteilen 2019 die angeklagten Ärzte im Ergebnis freigesprochen, aber eben auch keine grundsätzliche Kurskorrektur vorgenommen. Lediglich im Einzelfall und bei Vorliegen einer spezifischen Abrede zwischen Arzt und Patient kann nach Ansicht des BGH eine Strafbarkeit ausnahmsweise entfallen. Ob dieser Strafausschluss auch für Angehörige gilt, blieb offen. Die Strafbarkeitsrisiken wegen unterlassener Rettungspflicht bestehen damit im Wesentlichen unverändert fort. Vom heutigen Standpunkt aus, ergibt sich daraus aber ein Widerspruch zum (neuen) Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben, das vom BVerfG seit dem Urteil im Februar anerkannt wird: wenn dieses Suizidenten das Recht einräumt, die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen, kann es kaum richtig sein, diese Dritten zwar nicht mehr wegen § 217 StGB zu bestrafen, aber wegen Tötung auf Grund einer unterlassenen Rettungspflicht. Sterbebegleiter sind daher unweigerlich in einem Dilemma gefangen zwischen strafbewehrter Solidaritätspflicht und dem Gebot das Selbstbestimmungsrecht des Suizidenten zu achten. Besser also auf Sterbebegleitung ganz verzichten?
Flucht ins Ausland
Die Zuständigkeit der deutschen Staatsgewalt für die strafrechtliche Verfolgung in Fällen der Sterbehilfe endet an der deutschen Grenze. Menschen mit Sterbewunsch fahren zur Einnahme eines todbringenden Medikaments daher ins Ausland. In der Schweiz und den Niederlanden ist Sterbehilfe unter bestimmten verfahrensrechtlichen Voraussetzungen entkriminalisiert. Aus diesem Grund verzeichnen diese Länder eine Art "Sterbetourismus". Es gibt keine Aussagen darüber, wie viele dieser Menschen lieber zu Hause, oder zumindest in Deutschland gestorben wären.
Im Jahr 2018 belief sich laut Angaben der Statistikdatenbank Statista die Suizid-Rate in Deutschland auf 11,3 Fälle je 100.000 Einwohner. Die Suizidrate steigt mit voranschreitendem Alter eklatant. Liegt die Rate bis zum Alter von 45 Jahren unter dem Durchschnitt, steigt sie bis zum 70. Lebensjahr auf ca. 16 Fälle je 100.000. Ab über 85 Jahren steigt sie auf über 35 je 100.000 an. Insgesamt haben sich im Jahr 2018 insgesamt 9.396 Menschen suizidiert – viele von ihnen auf brachiale Weise, einsam und unter dramatischen Umständen).
Die Frage nach Sterbeassistenz und -begleitung lässt alle Beteiligten hilflos zurück: Ärzte, weil sie Sterbende und Unheilbarkranke in ihrem Wunsch verstehen, aber ihr Selbstverständnis als Ärzte gefährdet sehen; Familienangehörige, die Sterbenden das Gefühl geben möchten, nicht alleine zu sein und zu Letzt auch die Sterbenden selbst, die oftmals bis zum Ende begleitet werden möchten aber andererseits niemanden zu einer strafbaren Handlung verleiten oder drängen wollen. Es geht bei all dem um ein gesamtgesellschaftliches Thema, das dringend diskutiert werden muss, weil es in einer stets älter werdenden Gesellschaft mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Der Gesetzgeber ist angehalten, eine lebbare Lösung zu finden, die bei keinem Beteiligten einen Schaden hinterlässt. Ob hier religiöse Vorstellungen richtungsweisend sein sollten und eine Lösung wirklich im Strafrecht zu suchen ist, darf zumindest bezweifelt werden. Denn auch jenseits der Verhängung von Kriminalstrafe sind durchaus verfahrensrechtliche Wege denkbar, die Suizidprävention und Entkriminalisierung in Einklang bringen, ähnlich dem Verfahren beim Schwangerschaftsabbruch, ohne Menschen bei der Umsetzung ihres Wunsches alleine zu lassen. Wann und wie der Gesetzgeber diesen Zustand der Rechtsunsicherheit letztendlich beseitigen wird, bleibt weiterhin abzuwarten.
Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität des Saarlandes am Lehrstuhl für Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Marco Mansdörfer und am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie von Prof. Dr. Heinz Koriath.
Suizid und Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 28.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43236 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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