Das Ende September 2011 verabschiedete Wahlrecht hat nur weniger als ein Jahr gehalten. Am Dienstag erklärte das BVerfG das Sitzzuteilungsverfahren für die Bundestagswahlen für verfassungswidrig. Vor allem die politisch schon lange umstrittenen Überhangmandate müssen künftig teilweise ausgeglichen oder begrenzt werden, erklärt Sebastian Roßner.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts leidet das fast noch druckfrische Bundeswahlgesetz an drei gravierenden Mängeln. Das negative Stimmgewicht, die so genannte Reststimmenverwertung und schließlich die nichtausgleichspflichtigen Überhangmandate machen eine Neuregelung zwingend notwendig (BVerfG, Urt. v. 25.07.2012, Az. 2 BvF 3/11; 2 BvR 2670/11; 2 BvE 9/11).
Das negative Stimmgewicht ist ein paradoxer Effekt, der dazu führt, dass in bestimmten Ausnahmefällen eine abgegebene Stimme sich zuungunsten der gewählten Partei auswirkt. Eben wegen dieses negativen Stimmgewichts hatte das Gericht bereits am 3. Juli 2008 das alte Bundestagswahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Die Karlsruher Richter sahen darin einen Verstoß gegen die Gleichheit und die Unmittelbarkeit der Wahl sowie gegen die Chancengleichheit der Parteien und setzten dem Bundestag eine großzügige Frist bis Ende Juni 2011 zur Neuregelung.
Obwohl sich das Parlament für diese Arbeit sogar noch mehr Zeit ließ als zugestanden, hat ihm das BVerfG jetzt attestieren müssen, seine Hausaufgaben schlecht gemacht zu haben. Denn auch das im September 2011 verabschiedete Wahlrecht gewährleiste nicht, dass das negative Stimmgewicht nur in seltenen Ausnahmefällen auftrete, so der Zweite Senat.
Das Gericht hat dabei in den Urteilsgründen auf der Basis vergangener Wahlen verschiedene Szenarien durchgespielt. Sie ergeben, dass auch nach der jüngsten Novellierung realistischerweise damit zu rechnen ist, dass das negative Stimmgewicht auftritt.
In der Tat schafft das jetzt in Karlsruhe in zentralen Teilen aufgehobene Bundeswahlgesetz (BWG) sogar neue Möglichkeiten dafür, dass eine Stimmabgabe nach hinten losgeht und ungewollt andere Parteien begünstigt.
Gleichheitsverstoß: Aufrundungsgewinne bei Reststimmenverwertung nicht gegengerechnet
Während das negative Stimmgewicht eine Anomalie des Wahlrechts darstellt, die von keiner politischen Kraft gewünscht wird, geht es bei dem zweiten von Karlsruhe gerügten Mangel des Wahlrechts um eine Vorschrift, an der vor allem die kleineren Parteien ein Interesse haben.
Da die Wahl nach unverbundenen Landeslisten stattfindet, kann es in den Ländern jeweils zu einem Rest an Stimmen kommen, der auf eine Partei entfällt, aber nicht mehr groß genug ist, um der Partei ein weiteres Mandat innerhalb der für das Land vorgesehenen Zahl an Sitzen zu verschaffen. Es handelt sich letztlich um ein Rundungsproblem in Form eines Abrundungsverlustes. Er entsteht zwangsläufig, wenn eine Vielzahl abgegebener Wählerstimmen auf eine viel geringere Zahl von Mandaten abgebildet werden soll.
Die Reststimmenverwertung (§ 6 Abs. 2a BWG) ermöglicht es nun, diese ohne Erfolg gebliebenen Stimmen aus verschiedenen Ländern zusammenzufassen und der Partei dafür Mandate zuzuteilen, die so genannten Zusatzmandate. Dabei entstehen jedoch nicht nur Abrundungsverluste, sondern auch Aufrundungsgewinne. Sie führen dazu, dass Mandate vergeben werden, obwohl die dafür eigentlich erforderliche Stimmenzahl nicht ganz erreicht wurde. Diese Aufrundungsgewinne werden aber bei der Reststimmenverwertung nicht mit den Abrundsverlusten verrechnet, worin Karlsruhe einen Gleichheitsverstoß sieht.
Überhangmandate: Ungleichheit des Erfolgswertes der Stimmen
Für Diskussionen aber wird hauptsächlich der Teil der Entscheidung zu den Überhangmandaten sorgen. Überhangmandate treten auf, wenn einer Partei nach dem Proporz der Zweitstimmen weniger Mandate zustehen, als sie über die Erststimmen an Direktmandaten gewonnen hat. Nach gegenwärtigem Recht verbleiben der Partei die "überhängenden Mandate" vollständig. Die anderen Parteien erhalten dabei keine Ausgleichsmandate, die eine Sitzverteilung nach den Anteilen der gewonnenen Zweitstimmen wiederherstellen würde.
Die Überhangmandate verteilen also die politischen Gewichte im Bundestag anders als dies die Zweitstimmenanteile der Parteien vorsehen. Damit gewinnt ein Teil der Erststimmen Einfluss nicht nur auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments, sondern auch auf den Proporz der politischen Richtungen im Bundestag. Während grundsätzlich jeder Wähler nur einmal, nämlich mit der Zweitstimme, die proportionale Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen kann, nehmen die Wähler, die mit ihrer Erststimme zu Überhangmandaten beitragen, also doppelt Einfluss. Das BVerfG spricht hier von einer Ungleichheit des Erfolgswertes der Stimmen, die, soweit dürfte Einigkeit bestehen, rechtfertigungsbedürftig ist.
Dass Überhangmandate überhaupt entstehen können, sei, so das Gericht, durch das Anliegen des Gesetzgebers gedeckt, mit der Personenwahl eine enge Bindung zwischen den Wahlkreiskandidaten und ihren Wählern herzustellen. Dabei könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine Partei mehr Direktmandate erlange, als ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen an Sitzen zusteht.
An dieser Stelle schlägt das Urteil nun eine eigentümliche Volte, die wohl auf Kompromisse innerhalb des erkennenden Zweiten Senats zurückgeht. Auch der fehlende Ausgleich der Überhangmandate sei zum Teil gerechtfertigt, so das BVerfG weiter: Ein Anliegen der Personenwahl bestehe darin, dass der Bundestag sich jeweils zur Hälfte aus Listen- und Direktkandidaten zusammensetze.
Karlsruhe zieht Grenzen: Maximal 15 unausgeglichene Überhangmandate
Dies sei aber nicht mehr gewährleistet, wenn eine schwer zu prognostizierende Zahl von Ausgleichsmandaten hinzukommt, die ja über die Listen der Parteien zu besetzen wären. Mit anderen Worten: Der Senat bewertet die hälftige Bestückung des Bundestages mit Wahlkreiskandidaten höher als die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen. Diese Wertung wird bei vielen Staatsrechtlern Widerspruch hervorrufen.
Allerdings – und daran wird der Kompromisscharakter des Urteils in diesem Punkte deutlich – zieht Karlsruhe unausgeglichenen Überhangmandaten dann eine zahlenmäßige Grenze: Der Gesetzgeber dürfe nicht den "Grundcharakter" der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben. Von dieser begrifflich nicht ganz klaren Basis aus kommt das höchste deutsche Gericht dann zu dem etwas überraschenden Ergebnis, die unausgeglichenen Überhangmandate dürften eine Anzahl von 15 Sitzen nicht übersteigen. Das entspricht ungefähr der Hälfte der Mandate, die normalerweise für die Bildung einer eigenen Fraktion nötig sind.
Dem Senat ist dabei immerhin zugutezuhalten, dass er im Urteil offen seine Not bekennt, eine konkrete Grenze zu bezeichnen, ab welcher unausgeglichene Überhangmandate nicht mehr zulässig sind. Allerdings ist dies nur ein Folgeproblem, das daraus resultiert, dass das Gericht überhaupt die Tür einen Spalt breit geöffnet hat, für eine Verzerrung des Proporzes durch ausgleichslose Überhangmandate.
Wie es weitergehen kann: Teilweiser Ausgleich der Überhangmandate
Damit bleiben dem Gesetzgeber grundsätzlich zwei Wege, künftig mit den Überhangmandaten umzugehen: Er könnte versuchen, bereits die Zahl der entstehenden Überhangmandate zu begrenzen. Das ist aber schwierig, denn es dürfte unzulässig sein, "überschüssige" gewählte Direktkandidaten einfach wieder zu streichen. Zudem müsste der Bundestag dann festlegen, welche Direktkandidaten in den sauren Apfel beißen müssen. Auch läuft der gegenwärtige Trend zur relativen Schwächung der großen Parteien eher auf mehr Überhangmandate und damit auf mehr Streichkandidaten hinaus.
Die zweite Lösung ist die wahrscheinlichere Die Überhangmandate müssten zumindest teilweise ausgeglichen werden. Dafür gibt es im Wahlrecht der Länder immerhin Präzedenzfälle und praxiserprobte Lösungen.
Unabhängig von den verschiedenen und nicht leicht zu lösenden Detailproblemen steht der Bundestag jetzt unter beträchtlichem, allerdings selbst verursachtem Zeitdruck. Es gibt derzeit kein anwendbares Wahlrecht für den Bundestag und bis zu den nächsten Wahlen verbleibt nur noch etwas mehr als ein Jahr.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, BVerfG kippt Sitzzuteilungsregelung: . In: Legal Tribune Online, 25.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6702 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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