Bisher konnten sich Unternehmen aus Europa in Deutschland zwar vor den Fachgerichten auf materielle Gleichstellung mit hiesigen Unternehmen berufen, aber keine Verfassungsbeschwerde erheben. Diese Diskriminierung hat das BVerfG jetzt in einer Grundsatzentscheidung beseitigt – auf methodisch verschlungenem Weg zwar, aber im Ergebnis völlig zu Recht, meint Joachim Wieland.
Die Grundrechte des Grundgesetzes (GG) gelten gemäß Art. 19 Abs. 3 GG "auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind." Tatsächlich gelten die meisten Grundrechte auch für juristische Personen, weshalb Unternehmen mit Sitz in Deutschland als ebensolche Rechtssubjekte einen umfassenden Grundrechtsschutz genießen. Insbesondere können sie sich auch mit der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wenden.
Von dieser Möglichkeit haben sie häufig Gebrauch gemacht und wichtige Grundsatzentscheidungen erstritten. Besonders bekannt geworden ist das Mitbestimmungsurteil von 1979, das auf eine Verfassungsbeschwerde mehrerer deutscher Großunternehmen hin ergangen ist (Urt. v. 01.03.1979, Az. 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78). Dagegen konnten ausländische Unternehmen und sonstige juristische Personen sich bislang selbst dann nicht in Karlsruhe auf deutsche Grundrechte berufen, wenn sie ihren Sitz in der Europäischen Union hatten. 1968 hatte das BVerfG entschieden, dass einer juristischen Person mit Sitz in Frankreich die deutschen Grundrechte nicht zustünden (Beschl. v. 19.03.1968, Az. 1 BvR 554/65).
Bei Verabschiedung des GG stand Europa noch am Anfang
Es liegt auf der Hand, dass diese Rechtsprechung nicht mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Unionsrechts vereinbar war, das seit 1957 gilt und heute in Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert ist. Danach ist in der Union jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.
Zwar haben juristische Personen keine Staatsangehörigkeit, aber einen Sitz und eine Hauptverwaltung, auf die das Unionsrecht abstellt (Art. 54 I AEUV). Das BVerfG stand deshalb vor der Frage, wie der in seinem Wortlaut eindeutige Art. 19 Abs. 3 GG in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht gebracht werden konnte. Eine Interpretation von "inländische" im Sinne von "deutsche einschließlich europäische" juristische Personen hält das Gericht wegen der Wortlautgrenze nicht ohne Grund für unzulässig.
Immerhin sieht sich der Senat aber zu der zutreffenden Aussage genötigt, dass der Vorschrift kein Wille des Verfassungsgebers zugrunde liege, "eine Berufung auf die Grundrechte auch seitens juristischer Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union dauerhaft auszuschließen."
Grundrechtsschutz bei hinreichendem Inlandsbezug des Unternehmens
Der Beschluss vom 19. Juli 2011 (Az. 1 BvR 1916/09) begnügt sich mit der Aussage, dass sich die Europäische Union seit 1949 zu einem hochintegrierten Staatenverbund entwickelt habe und fährt dann etwas unvermittelt fort: "Die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG nimmt diese Entwicklung auf."
Um welche Anwendungserweiterung es sich handelt, erfährt der Leser erst in der Folge. Erwartungsgemäß wird der Grundrechtsschutz entgegen dem Wortlaut der Verfassung auf juristische Personen mit einem Sitz im EU-Ausland erstreckt, wenn ein hinreichender Inlandsbezug besteht.
Dieses Ergebnis überzeugt ebenso wie die Feststellung des Urteils, dass so eine Kollision mit dem Unionsrecht vermieden wird. Dessen Anwendungsvorrang schafft offenbar die Grundlage für die Anwendungserweiterung des deutschen Verfassungsrechts. Deutschland habe gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG mit verfassungsändernder Mehrheit zugestimmt, als das Diskriminierungsverbot Bestandteil des Unionsrechts wurde. Dadurch seien ohne Änderung des Wortlauts des GG, wie es Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG vorschreibt, Hoheitsgewalt übertragen und die Gewährleistungen des GG ergänzt worden.
Wenn aber die Hoheitsrechtsübertragung das GG seinem Inhalt – wenn auch nicht seinem Wortlaut - nach ergänzt hat, gilt für die Ermittlung des Inhalts des Art. 19 Abs. 3 GG die Wortlautgrenze naturgemäß nicht. Es besteht kein Normkonflikt, und die Verfassungsrichter haben nur den normativen Gehalt von Art. 19 Abs. 3 GG ermittelt, der sich mit dessen Wortlaut aber nicht vereinbaren lässt.
Mag der methodische Weg auch verschlungen sein, dass Ergebnis der neuen Rechtsprechung ist überzeugend. Unternehmen und andere juristische Personen mit Sitz oder Hauptverwaltung in der Europäischen Union werden in ihrem Grundrechtsschutz wie inländische juristische Personen behandelt und können sich mit der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht wenden. Und das ist gut so.
Prof. Dr. Joachim Wieland, LL.M., ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer.
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BVerfG entscheidet zum Grundrechtsschutz: . In: Legal Tribune Online, 16.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4316 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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