Die Untreue hat Konjunktur in der wirtschaftsstrafrechtlichen Ermittlungspraxis. Die in den letzten Jahren erhöhte Verfolgungsdichte basiert auf einem weiten Verständnis des Paragraphen in der Rechtsprechung. "Zu weit", wie Kritiker meinen. Nun meldet sich das BVerfG zu Wort. Mit einem Ergebnis, das keinem so richtig weiterhilft - außer den Vorstandsmitgliedern der BerlinHyp AG.
Am Ende war dann auch die Verfassungsbeschwerde der ehemals Angeklagten im Siemens-ENEL-Prozess erfolglos. Dabei standen vor allem für sie die Sterne doch gut. Gegen ihre Verurteilung im "letztinstanzlichen" Urteil des Bundesgerichtshof (BGH) (Az. BGH 2 StR 587/07) wegen Untreue hatte sich eine massive Front von namhaften Kritikern gebildet, die das Begründungsmodell des BGH anprangerten. Die Chancen für eine Urteilsaufhebung durch eine Verfassungsbeschwerde waren also gegeben, zumal man ja auch nicht alleine in den Krieg zog. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) musste vielmehr drei Verfahren miteinander verbinden, in denen es jeweils um die Anwendung und Auslegung des Tatbestandes der Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) ging.
Während der Siemens-ENEL-Fall die Strafbarkeit wegen Bildung schwarzer Kassen betraf, stand im zweiten Fall der Vorstand einer Betriebskrankenkasse im Mittelpunkt, der seinen Angestellten – in Parallele zum Mannesmann-Fall - jahrelang willkürlich Prämien bewilligte. Die Beschwerdeführer im dritten Verfahren waren die Vorstandsmitglieder der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG (BerlinHyp AG), welche unzureichend gesicherte Kredite von über 20 Mio. DM bewilligt und ausgezahlt haben sollen.
Doch worum geht es eigentlich genau bei der Untreue? Es handelt sich um einen Tatbestand, der das Vermögen gegen Beeinträchtigungen "von innen" (also durch Personen, denen das Vermögen anvertraut wurde) schützen soll. Als Gegenbeispiel sind die Delikte zu nennen, die Vermögensbeeinträchtigungen "von außen" erfassen (wie etwa Betrug, Diebstahl oder Erpressung). Tathandlung des § 266 Strafgesetzbuch (StGB) ist - ohne den teils misslungenen Wortlaut wiederholen zu müssen - auf den Punkt gebracht: die Verletzung einer "qualifizierten" Vermögensbetreuungspflicht. Durch diese Handlung muss es dann zu einem Vermögensnachteil für den Treugeber kommen, für den der Betreuungspflichtige tätig ist.
Die weite Auslegung des Untreuetatbestandes – eine Erläuterung am Beispiel schwarzer Kassen
Solch eine Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht samt Schaden sah der entscheidende Senat im Siemens-ENEL Fall bereits in der Bildung und Fortführung von schwarzen Kassen durch die Angestellten der Siemens AG zum Zweck der systematischen Korruption; schließlich hätten die Mitarbeiter ihren Geschäftsherren die grundsätzliche Dispositionsmöglichkeit über das Geld entzogen, das zum Inbegriff des Vermögens zähle. Die (nicht nur potentiellen) Gewinne, welche durch die Bestechungszahlungen eingestrichen werden konnten, sollten keine Rolle spielen. Der Vermögensschaden sei mit Einrichtung der schwarzen Kasse vollkommen.
Rechtspolitischer Hintergrund: Die Angeklagten konnten nicht wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr gem. § 299 II StGB verurteilt werden, da diese Norm zum Tatzeitpunkt den internationalen Wettbewerb nicht schützte (erst seit 2002, vgl. § 299 III StGB). Somit war der Senat schlicht gezwungen, auf den Untreuetatbestand zurückzugreifen; neu war dieser Weg seit der CDU-Spendenaffäre ganz sicher nicht, nur strenger, da man bei der Kanther/Weyrauch-Entscheidung (Az. 2 StR 499/05) die guten Absichten des Schwarzgeld-Kassiers noch zu berücksichtigen wusste.
Die Keule des "Bestimmtheitsgebots" als stumpfe Waffe gegen präzisierende Auslegung?
Wie anfangs angedeutet, hat solch ein weites Verständnis vom Untreuetatbestand nur wenig Zustimmung gefunden. Solange die Gelder noch nicht abgeflossen sind, kann nur von einer Gefährdung des Vermögens ausgegangen werden, dessen Konkretisierung von den Intentionen des Schwarzgeld-Kassiers abhängt. Doch der Vermögensschaden ist nicht die einzige Baustelle des § 266 StGB.
Über das Merkmal der Pflichtverletzung werden bei einem rigorosen Verständnis inzwischen auch riskante Prognoseentscheidungen erfasst, wie sie im Wirtschaftsleben nicht nur erforderlich, sondern manchmal sogar wünschenswert sind. Gerichte und Staatsanwälte laufen dann Gefahr, sich mehr Weitblick anzumaßen, als ein Topmanager, der jahrelange Erfahrung auf seinem Gebiet aufweisen kann.
Diese problematischen Aspekte wurden bei den zwei übrigen Verfahren aufgegriffen. Nachdem man revisionsrechtlich gescheitert war, versuchte man sich nun beim BVerfG: allerdings mit dem "Klotz" des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs; schließlich prüft das BVerfG nicht, ob die "Dogmatik" des BGH aus strafrechtstraditioneller Sicht noch haltbar ist oder nicht, sondern ob die Straftatbestände selbst und deren Anwendung dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügen.
Schwarze Kassen sowie überhöhte Prämienausschüttungen bleiben grundsätzlich strafbar
So kommt dann am Ende ein Verfassungsgerichtsbeschluss heraus, der nur auf den ersten Blick verblüfft. Im dritten (rein rechtlich gesehen) einfach unter § 266 StGB subsumierbaren Fall wird den Beschwerdeführern Recht gegeben und das Verfahren an das LG Berlin zurückverwiesen, während bei rechtsdogmatisch komplizierten Fragen -wie der Ausbezahlung überhöhter Prämien oder der Bildung schwarzer Kassen- die Verfassungsbeschwerde als unbegründet verworfen wird.
Warum ist das dennoch keine Überraschung? Weil das BverfG feststellt, dass der Tatbestand den Anforderungen des Art. 103 II GG genügt und die Präzisierung der Rechtsprechung überlassen ist. Diese kann im Wege richterlicher Rechtsfortbildung dem Tatbestand Konturen verleihen. Solange sie diese Rechtsprechung dann auch in concreto "bestimmt" umsetzt, kann ihr zumindest verfassungsrechtlich kein Vorwurf gemacht werden. An dieser Umsetzung fehlte es nur im dritten (wie erläutert rechtlich nicht komplizierter gelagerten) Fall der BerlinHyp.
Das Landgericht hatte schlicht keinen Schaden in seiner Urteilsbegründung benannt, man könnte sagen: "Kein Fehler bei der Diagnose, sondern bei der Operation." Die schwarzen Kassen und deren Entzug wurden dagegen tatrichterlich auch im Urteil festgestellt, ebenso wie die überhöhten Prämienausschüttungen im Krankenkassenfall. Erst der praktische Umsetzungsfehler führte also zu dem besagten Teilerfolg der Verfassungsbeschwerde.
Kein Rückbesinnung oder Neukonturierung der Untreue durch das BVerfG
Das BVerfG hat also nur einen Darstellungsfehler im Urteil gegen die Angeklagten aus dem Berliner Bankenskandal aufgegriffen, der in jedem anderen Prozess auch vorkommen könnte (auf die Spitze getrieben etwa die fehlende Feststellung der Todesursächlichkeit einer Handlung im Rahmen eines Mordvorwurfs). Insofern ist die in den Medien häufig zu lesende Anmerkung, das BVerfG hätte die Messlatte für die Untreue höher gelegt, mit Vorsicht zu genießen.
Im Übrigen sind die Ausführungen aus Karlsruhe sachlich nicht zu beanstanden, aber praktisch wenig hilfreich. Da der Beschluss die Bestimmtheit sowie Bestimmbarkeit des Untreuetatbestandes abgesegnet hat, kann § 266 StGB weiterhin als "Kaugummiparagraph" (so der Strafverteidiger Amelung) bzw. als "Mädchen für alles" im Wirtschaftsstrafrechts bezeichnet werden. Mit der Untreue im Recht bleibt es also vorerst wie mit der Untreue in der Partnerschaft: Die Grenzen zwischen einem Flirt und einem (verbotenen?) Seitensprung sind fließend.
Der Autor Mustafa Temmuz Oğlakcιoğlu ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie von Prof. Kudlich (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/ Nürnberg).
BVerfG-Beschluss zu § 266 StGB: . In: Legal Tribune Online, 17.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1215 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag