Zum ersten Mal hat das BVerfG ein Vorgehen von EU-Organen als Kompetenzüberschreitung eingestuft. Das Urteil ist vor allem eine Kritik am EuGH. Und dürfte Folgen haben.
Spektakulärer hätte der Abschied von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle kaum ausfallen können. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellt erstmals in seiner Geschichte fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien, so Präsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Sie könnten daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten.
Damit schließt sich zum Ende seiner Amtszeit – sie endet offiziell am 6. Mai 2020 – der Kreis in gewisser Weise zu einer der frühen Entscheidungen von Voßkuhles Zweiten Senats. Im Jahr 2010 entschied der im sogenannten "Honeywell"-Verfahren zu den Voraussetzungen, wann eine ultra-vires-Kontrolle in Betracht kommt. Mit dem Ausdruck "ultra-vires" – jenseits der Gewalten – ist der Fall gemeint, in dem ein europäisches Organ wie die EZB bei ihrer Arbeit ihre Kompetenzen überschreitet. Denn die europäischen Organe dürfen nur soweit handeln, wie die Nationalstaaten ihnen dafür Kompetenzen übertragen haben, Stichwort: Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.
Das BVerfG begreift sich seit langem als Kontrolleur dieses Grundbauprinzips der europäischen Rechtsgemeinschaft. Am Dienstag, rund zehn Jahre nach "Honeywell", war es dann soweit. Aus einer immer wieder ausgesprochenen Warnung wurde Ernst: Die EZB habe kompetenzwidrig gehandelt, und das billigende Urteil des EuGH sei "ultra vires" ergangen, (Urt. v. 05.05.2020, Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH sei "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar", so die Verfassungsrichter in aller Deutlichkeit.
Wo endet erlaubte Geldpolitik und wo beginnt Wirtschaftspolitik der EU?
Im Jahr 2015 hatte die Europäische Zentralbank (EZB) ein neues Programm aufgelegt und Staatsanleihen angekauft. Durch den Verkauf von Staatsanleihen können Staaten sich finanzieren. Mit dem milliardenschweren Kaufprogramm wollte die EZB eine drohende Deflation bekämpfen und die Wirtschaft ankurbeln. Bis Ende 2018 belief sich das Gesamtvolumen der Ankäufe auf etwa 2,6 Billionen Euro.
Die EZB hat grundsätzlich nur ein Mandat für die Geldpolitik, darf aber keine Wirtschaftspolitik – das ist Sache der Nationalstaaten – betreiben. Die Kernfrage des Verfahrens war also: Wie viel wirtschaftspolitische Folgen darf eine als geldpolitische deklarierte Maßnahme der EZB haben? Und wie bleibt das gerichtlich überprüfbar?
Die Verfassungsbeschwerden mehrerer Personen richteten sich gegen das Anleihekaufprogramm, das sogenannte Public Sector Purchase Program (PSPP). Die Deutsche Bundesbank dürfe an diesem Programm nicht mitwirken und der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung seien verpflichtet, geeignete Maßnahmen gegen das Programm zu ergreifen, argumentierten die Beschwerdeführer. Denn letztlich stellten sich Legitimationsfragen für die Entscheidungen der EZB. Befürchtet wurde, dass der Ankauf eine verdeckte Staatsfinanzierung sein könnte, zu Lasten des deutschen Steuerzahlers.
Am Ende eine Frage der demokratischen Legitimation
Das BVerfG gab den Beschwerdeführern nun in wesentlichen Fragen Recht. Vor allem die Verhältnismäßigkeit des EZB-Kaufprogramms muss aus Sicht des BVerfG geklärt werden. Die Bundesbank darf künftig nur mitmachen, wenn der EZB-Rat nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem Kaufprogramm "angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen".
Der grundrechtliche Begründungsanlauf ist lang und nimmt seinen Anfang beim Bürger und seinem Wahlrecht: Die Beschwerdeführer seien in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Und zwar indem Bundesregierung und Bundestag sich nicht aktiv gegen die kompetenzüberschreitende Entscheidung der EZB gestellt haben. Am Ende habe die EZB beim Anleihenkauf in einer Weise gehandelt, die so nicht mehr legitimiert war.
Wegen dieser stark europäisch eingefärbten Verfassungsstreitigkeit hatte das BVerfG zwischenzeitlich auch den EuGH eingeschaltet. Im Jahr 2017 hatten die BVerfG-Richter des Zweiten Senats dem EuGH mehrere Fragen zum Verfahren vorgelegt, sie sahen die Entscheidung der EZB kritisch. Diese Fragen betrafen insbesondere das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, das Mandat der EZB für die Währungspolitik und einen möglichen Übergriff in die Zuständigkeit und Haushaltshoheit der Mitgliedstaaten.
Unheilvolle Kombination: Weiter Handlungsspielraum bei großzügiger Kontrolle
Der EuGH hatte allerdings keine Bedenken gegen das Ankaufprogramm. Dass die Bank mit dem währungspolitisch motivierten Wertpapierankauf zwangsläufig auch Einfluss auf die Gesamtwirtschaft nimmt, hielten die Luxemburger Richter mit ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2018 für zulässig. Der Gerichtshof hatte der EZB dafür einen weiten Beurteilungsspielraum eingeräumt. So richtig glücklich können die BVerfG-Richter mit der Antwort aus Luxemburg nicht gewesen sein.
Zudem gab es eine ganz ähnliche Konstellation im sogenannten OMT-Verfahren. Auch hier äußerte das BVerfG – an dem nie eingesetzten – Notprogramm Kritik. Der EuGH segnete es abstrakt ab und setzte der EZB Grenzen. Die Verfassungsrichter akzeptierten 2016 die Bemühungen. Im Vordergrund stand damals offenbar die Hoffnung auf Zusammenarbeit vor Selbstbehauptung. Nun lag das "letzte Wort" wieder bei den Karlsruher Richter.
Weil die EZB keine deutsche, sondern eine europäische Institution ist, kann das BVerfG Vorgaben nur mittelbar an sie richten – und zwar über Bundesregierung bzw.Bundestag. Denen ist die Bundesbank zuzuordnen, die selbst kein Verfassungsorgan ist. Und die Bundesbank führt gleichsam die Geldpolitik der EZB in Deutschland aus.
Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das BVerfG eine Entscheidung eines EU-Organs als Kompetenzüberschreitung eingestuft. Für eine solche sogenannte "ultra-vires"-Feststellung durch das BVerfG reicht auch nicht jede Kompetenzüberschreitung, sondern das Handeln der Unionsgewalt muss offensichtlich kompetenzwidrig sein, es muss innerhalb des Kompetenzgefüges zu einer strukturellen Verschiebung führen.
Und das befürchten die Verfassungsrichter des Zweiten Senats. Auf eine Kurzformel gebracht sehen die Richter ein unheilvolles Zusammenspiel zwischen einem EU-Organ mit weitreichenden Handlungsspielräumen (die EZB) und einem eigentlich zur Kontrolle berufenen Gericht (der EuGH), dessen Prüfung aber großzügig ausfällt. Dadurch drohe dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Gefahr. Und es "eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten", wie es in dem Urteil heißt.
EZB-Rat kann Abwägung nachholen
Die Richter sehen vor allem einen Abwägungsausfall bei der EZB. Sie hätte die wirtschaftspolitischen Auswirkungen gewichten, in Beziehung zu den deklarierten währungspolitischen Zielen setzen, und schließlich nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen. Die BVerfG-Richter vermissen vor allem eine dokumentierte Begründung. Denn ohne Dokumentation keine effektive gerichtliche Kontrolle.
Die Verhältnismäßigkeitsprüfung kann der EZB-Rat nun aber nachholen. Bereits am Dienstag hat er angekündigt, das Karlsruher Urteil zu den Anleihenkäufen am Abend in einer Sondersitzung zu bewerten. Die Notenbanker werden sich um 18 Uhr zu einer Telefonkonferenz zusammenschalten, wie ein EZB-Sprecher auf Anfrage der dpa mitteilte.
Der Bundesbank ist es nach einer Karenzzeit von drei Monaten dann erst einmal untersagt, PSPP-Beschlüsse umzusetzen. Solange bis der Rat "nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen", wie es in dem Urteil heißt.
Keine verbotene Staatsfinanzierung
Nicht feststellen konnte der Senat eine verbotene Staatsfinanzierung nach Art. 123 Abs. 1 AEUV, auch das hatten die Beschwerdeführer in Karlsruhe gerügt. Dahinter steckt die Befürchtung von Kritikern, dass durch allzu selektive Maßnahmen der EZB zugunsten eines Mitgliedstaates gleichsam das Eurosystem zum Mehrheitsgläubiger eines Mitgliedstaates wird. Also eine heimliche Staatsfinanzierung von verschuldeten EU-Staaten. Das wird aus Sicht des Zweiten Senats vor allem durch eine Ankaufobergrenze und durch einen Kapitalschlüssel verhindert.
Insofern sind die unmittelbaren praktischen Auswirkungen der Entscheidung zunächst überschaubar. Anders als das "ultra-vires"-Diktum suggerieren mag, apokalyptisch sind die Folgen für die Arbeit der EZB sicher nicht. Anders mag es für das Zusammenspiel des EuGH mit den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten aussehen.
Auswirkungen auf Corona-Notprogramme der EZB?
Inwiefern sich das Urteil von Dienstag auf ganz aktuelle Corona-Hilfsprogramme der EZB auswirkt, ist noch offen. Um die wirtschaftlichen Folgen der Krise abzufedern, hat die EZB bis Jahresende im Rahmen der laufenden Kaufprogramme 120 Milliarden Euro zusätzlich investiert. Dieses Geld soll vor allem in Unternehmenspapiere fließen. Zudem steckt die EZB 750 Milliarden Euro über ein Notprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme/PEPP) in Staats- und Unternehmensanleihen.
Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung, wie das Gericht am Dienstag betont. Das Urteil sollte ursprünglich am 24. März verkündet werden, war also so gut wie fertig, als die Pandemie ausbrach.
In Bezug auf das PSPP-Verfahren hat das BVerfG der Bundesregierung und dem Bundestag eine Beobachtungspflicht auferlegt, sie sollen Risiken des PSPP frühzeitig erkennen. Diese Beobachtungspflicht könnte nun auch für andere Finanzierungsinstrumente gelten.
Entschärfung im Namen Europas?
Und so stellt das Urteil des BVerfG vor allem eine Kritik an der Entscheidung des EuGH dar. Wenn die EZB ihren Handlungsspielraum weit interpretiert, so hätte zumindest aber der EuGH noch eine wirksame Kontrollinstanz darstellen können. Wenn der seine Prüfung aus Sicht des BVerfG nicht ausreichend durchführt, dann bleibt am Ende nur noch das BVerfG. Weiter Handlungsspielraum ohne zupackende Verhältnismäßigkeitsprüfung geht nicht, so die Botschaft.
Der Urteilstext betont bei aller Kritik aber auch die Kooperation in der europäischen Rechtsgemeinschaft. So heißt es: "Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen. Dies kennzeichnet die Europäische Union, die ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund ist." Eine ganz entscheidende Rolle nimmt dabei das BVerfG selbst ein, wie es heute unter Beweis gestellt hat.
BVerfG zu EZB-Anleihenkauf und EuGH: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41517 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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