2/2: Zuschauerinnen dürfen ein Kopftuch tragen
Überzeugend hatte daher das BVerfG in der eingangs erwähnten Kammerentscheidung die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Jugendrichters des Amtsgerichts Tiergarten wegen Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) aufgehoben. Der Richter hatte eine Teilnehmerin im Publikum des Saales verwiesen, weil sie ein Kopftuch trug und er dieses im Gerichtssaal nicht dulden wollte. Die Kammer des BVerfG führte hierzu aus:
"Des Schutzes aus Art. 4 GG geht der Einzelne nicht deshalb verlustig, weil er sich als Zuhörer in einem Gerichtssaal befindet. Verträgt sich das der Religionsausübung dienende Verhalten mit einem störungsfreien Ablauf der Sitzung, ist es vom Gericht mit Blick auf Art. 4 GG hinzunehmen […]. Für den konkreten Fall des Tragens von Kopfbedeckungen im Gerichtssaal gilt daher, dass eine Ungebühr und damit eine Störung der Sitzung nicht vorliegt, wenn das Aufbehalten eines Hutes oder Kopftuchs lediglich aus religiösen Gründen erfolgt und auszuschließen ist, dass mit ihm zugleich Missachtung gegenüber der Richterbank oder anderen Anwesenden ausgedrückt werden soll […] und solange der Zuhörer als Person identifizierbar bleibt."
Missachtung der Grundrechte der Betroffenen
Erst recht muss dies für eine Prozesspartei gelten. In einer Familiensache (Scheidungs- und Scheidungsfolgeverfahren) kommt hinzu, dass es um die Verhandlung über eine höchstpersönliche Statusfrage geht. Aufgrund des persönlichen und unmittelbaren menschlichen Einschlags in einer Familiensache berührt die Möglichkeit, an der mündlichen Verhandlung in Person teilzunehmen und sich nicht lediglich anwaltlich vertreten zu lassen, die Subjektstellung im Prozess. Mangels erkennbarer zwingender Gründe des Gemeinwohls verletzt eine Anwendung des § 176 GVG, mit der die Scheidungsklägerin faktisch von der Teilnahme an der Verhandlung ausgeschlossen wird, offensichtlich die Religionsfreiheit der Betroffenen.
Zugleich diskriminiert die familiengerichtliche Praxis wegen des Geschlechts, weil von dem "Kopftuchverbot" vor Gericht ausschließlich Frauen betroffen sind und diesen daher – anders als dem Ehepartner – die Möglichkeit entrissen wird, die eigene – möglicherweise prekäre – familiäre Situation auch persönlich gegenüber dem erkennenden Gericht zu schildern. Insoweit werden dem Ehemann ohne sachlichen Grund asymmetrisch prozessuale Handlungsvorteile verschafft.
Die Fairness des Verfahrens ist insoweit beeinträchtigt. Nachteile für die prozessuale Handlungsfähigkeit kann die Betroffene nur vermeiden, wenn sie sich vor der Öffentlichkeit und dem (im Fall: männlichen) Richter unter Überwindung innerer Zwänge "entblößt". Die damit verbundene sexistische Demütigung ist greifbar.
Ein solcher objektiv grober Missbrauch des richterlichen Verfahrensermessens stellt nicht nur die Unvoreingenommenheit des Gerichts in Frage und mag unter dem Gerichtspunkt der Rechtsbeugung (§ 339 Strafgesetzbuch) zu würdigen sein. Er gefährdet auch das Grundvertrauen in die Institutionen der Rechtspflege, auf das der Staat angewiesen ist. Die rechtsprechende Gewalt ist ein entscheidender gesellschaftlicher Stabilitätsanker, der Normen im öffentlichen Bewusstsein etabliert und stabilisiert. Sie darf daher keine Ressentiments eines provinziellen Alltagsrassismus und -sexismus mit prozessualen Mitteln fortsetzen.
Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Friedrich-Wilhelms Universität Bonn und Richter am OVG im Nebenamt. Die Autorin Maria Geismann, LL.M. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl in Bonn.
Pflicht zur Neutralität von Prozessparteien: . In: Legal Tribune Online, 17.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23473 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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