Die Große Koalition änderte vor der Bundestagswahl 2021 das Wahlrecht, um ein weiteres Anwachsen des Parlaments zu verhindern. Diese Reform ist verfassungskonform, entschied am Mittwoch das BVerfG. Doch die Entscheidung war knapp.
Um den mit damals 709 Sitzen stark aufgeblähten Bundestag zu verkleinern, verabschiedete die Große Koalition (GroKo) 2020 eine Reform des Bundeswahlgesetzes (BWahlG). Diesen Neuregelungen hat die Mehrheit des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am Mittwochmorgen seinen Segen erteilt und damit einen Normenkontrollantrag von 216 Abgeordneten der FDP, Linken und Grünen abgewiesen (Urt. v. 29.11.2023, Az. 2 BvF 1/21). Drei der acht Richter gaben jedoch ein Sondervotum ab, was sich schon in der mündlichen Verhandlung angedeutet hatte.
Die Antragsteller hatten gerügt, dass die teilweise Streichung von Ausgleichsmandaten im Zuge der Reform die Stimmengleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) sowie die Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 GG unzulässig beeinträchtige. Dem schloss sich der Zweite Senat nicht an: Zwar liege ein Eingriff in diese Rechte vor, jedoch sei dieser "durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl gerechtfertigt".
Streichung von Ausgleichsmandaten mit GG vereinbar
Die GroKo hatte sich einen verkleinernden Effekt dadurch erhofft, dass in Zukunft nicht jedes Überhangsmandat durch ein Ausgleichsmandat kompensiert wird, sondern dies erst ab einer Zahl von vier Überhangmandaten passiere.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Erststimmen erlangt, als ihr nach der Zweitstimmenverteilung zustehen. Die mit der Erststimme direkt gewählten Abgeordneten sollen ihren Sitz möglichst nicht verlieren, wenn die Partei im Bundesdurchschnitt wenig beliebt ist. Da aber die Zweitstimmen maßgeblich für die Sitzverteilung sein sollen, müssen die übrigen Parteien, die keine oder im Verhältnis weniger Überhangmandate errungen haben, dafür Ausgleichsmandate erhalten. Das hatte das BVerfG 2012 entschieden, aber zugleich Raum gelassen für bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate.
Diesen Spielraum hatte die GroKo ausgenutzt – in zulässiger Weise, wie nun der Zweite Senat entschied. Das neue Wahlrecht stärke das Element der Personenwahl, also die Erststimme. Dies trage dazu bei, dass eine Partei ihre bundesweit gewonnenen Wahlkreismandate behalten dürfe, und stelle gleichzeitig eine zumindest "annähernd gleiche Zahl von Direkt- und Listenmandaten" sicher. "Mildere, die Wahlgleichheit weniger einschränkende Instrumente, die dieses Ziel ebenso gut erreichen, stehen nicht zur Verfügung", heißt es in einer Mitteilung des BVerfG vom Mittwoch. Auch im Übrigen erkannte das Gericht keinen Verstoß gegen das GG.
Einig waren sich die Richter dabei jedoch nicht: Eine Minderheit von drei der acht Senatsmitglieder sah das Gebot der Normenklarheit verletzt.
Sondervotum: Bürger wählen "im Blindflug"
Bereits nach der mündlichen Verhandlung im April waren Zweifel aufgekommen, ob das BVerfG die streitgegenständlichen §§ 6 und 48 BWahlG aus Mangel an Bestimmtheit bzw. Klarheit für verfassungswidrig erklären würde. Trotz einer Eins in Mathe verhake er sich bei der Lektüre des streitgegenständlichen § 6 BWahlG immer, sagte etwa Richter Ulrich Maidowski. Auch der berichterstattende Richter Peter Müller äußerte deutliche Bedenken an der Normenklarheit.
Im Ergebnis hielten Müller und Maidowski – zusammen mit der Senatsvorsitzenden König – das BWahlG in der Fassung der Reform 2020 tatsächlich mangels hinreichender Normenklarheit für verfassungswidrig. Sie machten dabei einen Unterschied zwischen dem Bestimmtheitsgebot und dem Gebot der Normenklarheit. Während der Bestimmtheit genügt sei, wenn der professionelle Rechtsanwender die Normen verstehe, reiche das für die Normenklarheit nicht. Klar sei eine Norm nur, wenn der Bürger sie verstehe.
Im Kontext einer Parlamentswahl sei dies Ausdruck des demokratischen Selbstbestimmungsrechts der Bürger. "Politische Partizipation setzt voraus, dass die Wirkungen dieser Stimmabgabe jedenfalls hinreichend konkret absehbar sind und bei der Wahlentscheidung berücksichtigt werden können", heißt es im Sondervotum. "Dem müssen die wahlrechtlichen Vorschriften Rechnung tragen." Genau das täten die §§ 6, 48 BWahlG nicht. Sie seien vielmehr so komplex gefasst, dass der Bürger sein Wahlrecht "im Blindflug" ausüben müsse. Das sei demokratische Partizipation "im Ungefähren".
Diese Rechtsauffassung findet sich jedoch nur in einem Sondervotum wieder, denn die Mehrheit des Senats konnten König, Müller und Maidowski davon nicht überzeugen. Fünf der acht Richter sahen weder einen Verstoß gegen das eine noch das andere Gebot.
Senatsmehrheit: Bürger müssen Regelungen nicht ohne Hilfe verstehen
Nach der Mehrheitsauffassung besteht schon gar kein Unterschied zwischen Bestimmtheit (für Rechtsanwender) und Klarheit (für die Öffentlichkeit) von Gesetzen. Bei den Geboten handele es sich vielmehr um ein "einheitliches Postulat. Eine Trennung zwischen Bestimmtheits- und Klarheitsgebot dahingehend, dass eine Norm zwar noch hinreichend bestimmt sein kann, aber gegen das Gebot der Normenklarheit verstößt, kommt grundsätzlich nicht in Betracht", heißt es in einer Mitteilung des Gerichts.
Die Senatsmehrheit stimmte mit König, Müller und Maidowski zwar darin überein, dass "wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger allein auf Grundlage des Gesetzestextes ohne Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen nicht in der Lage sein dürften, die Regelungen [...] im Einzelnen zu erfassen". Das sei aber nicht schlimm, denn: "§§ 6, 48 BWahlG sind primär an die Wahlorgane als Rechtsanwender gerichtet, nicht hingegen unmittelbar an die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger."
Heißt das nun für alle Gesetze, dass nur juristisch geschulte Normanwender diese verstehen müssen, juristische Laien hingegen nicht?
Das ergibt sich aus dem Urteil vom Mittwoch nicht. Die Senatsmehrheit stellte ausdrücklich auf den Zweck der betreffenden Normen und den durch sie geregelten Lebenssachverhalt ab. "Deshalb ist es hinnehmbar, die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens so zu fassen, dass die damit betrauten Wahlorgane sie ordnungsgemäß anwenden können, wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sie aber in der Regel nicht allein aufgrund des Normtextes, sondern erst unter Zuhilfenahme weiterer Informationsquellen im Einzelnen erfassen können." Das heißt nur, aber immerhin: Die Berechnung der konkreten Sitzzuteilung ist unvermeidbar komplex – derart komplex, dass Bürger die Einzelheiten nicht verstehen müssen.
Grundlage für die Neuwahlen in Berlin 2024
Die Ampel-Koalition hat im Frühjahr eine neue Reform des Wahlrechts beschlossen. Daher ist für die kommende Bundestagswahl das BWahlG in dieser 2023er Fassung maßgeblich. Allerdings sind auch dagegen schon Klagen beim BVerfG anhängig. Gerügt wird unter anderem, dass in dieser "großen" Reform – im Gegensatz zur "kleinen" 2020er Reform – die Erststimme im Vergleich zur Zweitstimme geschwächt wird: Die Ampel hat die Überhangmandate abgeschafft und die Grundmandatsklausel gestrichen. Diese stellte bislang sicher, dass eine Partei, die drei Direktmandante gewinnt, auch dann in den Bundestag einzieht, wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde unterschreitet.
Ob sich aus dem Urteil vom Mittwoch zu dieser Reform Aussagen gewinnen lassen, hängt davon ab, wen man fragt: Die Abgeordneten der Regierungsparteien Philipp Hartewig (FDP) und Till Steffen (Grüne) betonten den Spielraum, den das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des personalisierten Verhältniswahlrechts eingeräumt habe. Dass das Gericht eine Stärkung der Erststimme wie im GroKo-Wahlrecht erlaube, heiße umgekehrt nicht, dass eine Stärkung der Zweitstimme unzulässig sei. Anders sah das CDU-MdB Ansgar Heveling: Er wertete die Stärkung der Bedeutung der Erststimme als "Appell an die Ampel, das neue Wahlrecht zu überdenken".
Auch unabhängig davon, ob man in der Entscheidung des BVerfG vom Mittwoch einen Fingerzeig für die anstehenden Verhandlungen über das Ampel-Wahlrecht sehen will, ist das Urteil bedeutsam: Einerseits stellte die Senatsmehrheit damit fest, dass der aktuelle Deutsche Bundestag auf verfassungskonformer Grundlage zustande gekommen ist; mit diesem Klarstellungsinteresse hatte das BVerfG schon im Vorfeld ein Ruhen des Verfahrens abgelehnt.
Andererseits wird das BWahlG in der Fassung der Reform von 2020 die Grundlage für die in Berlin anstehenden Neuwahlen bilden. Wegen der chaotischen Zustände in Wahllokalen der Hauptstadt am Tag der Bundestagswahl 2021 wird die Wahl dort in Teilen wiederholt. Der Umfang der Neuwahlen steht allerdings noch nicht fest, hierüber entscheidet am 19. Dezember erneut der Zweite BVerfG-Senat, auch hier ist Peter Müller Berichterstatter – ein letztes Mal, danach scheidet er aus dem Amt.
Dieser Artikel wurde am Tag der Veröffentlichung laufend aktualisiert.
Zweiter Senat des BVerfG ist sich uneinig: . In: Legal Tribune Online, 29.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53286 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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