In einem Tweet warf Reichelt der Bundesregierung vor, für NGOs in Afghanistan bestimmte Entwicklungsgelder "an die Taliban" zu zahlen. Warum das BVerfG darin keine unwahre Tatsachenbehauptung, sondern eine zulässige Meinungsäußerung sah.
Die Bundesrepublik Deutschland will auch Menschen in Staaten unterstützen, die von Terroristen geführt werden. Julian Reichelt hält nicht viel davon: Er kritisierte die Bundesregierung nicht nur dafür, humanitäre Gelder an Menschenrechtsorganisationen in Palästina zu zahlen sowie etwa die Zahlungen an das Palästinenserhilfswerk UNRWA wieder aufzunehmen. Auch über Gelder für Entwicklungszusammenarbeit an Afghanistan hat der Ex-Bild-Chefredakteur eine klare Meinung: "Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!)", kommentierte der NiUS-Journalist am 25. August auf X. Und weiter: "Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!"
Ist die Aussage, Deutschland zahle Millionen "an die Taliban", rechtlich zulässig? Das Kammergericht (KG) in Berlin hatte die Aussage noch als unwahre Tatsachenbehauptung untersagt, weil die Entwicklungsgelder nicht direkt an das Taliban-Regime flössen, sondern an in Afghanistan tätige NGOs. LTO hatte über den Beschluss vom 15. November 2023 (Az. 10 W 184/23) berichtet.
Demgegenüber gab das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nun Julian Reichelt Recht. In einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss (v. 11.04.2024. Az. 1 BvR 2290/23) hob die 1. Kammer des Ersten Senats den Eilbeschluss des KG auf. Dieser verletze die in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) verankerte Meinungsfreiheit. Das KG habe "den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung erkennbar verfehlt". Die Taliban-Aussage sei keine Tatsachenbehauptung, sondern eine Meinungsäußerung.
Überschrift des verlinkten Artikels entscheidend
Die Karlsruher Richter berücksichtigten bei der Auslegung des Tweets vor allem den "erkennbaren Kontext": Dort war ein in der Vorschau sichtbarer Artikel der Plattform NiUS verlinkt. Dieser trägt die – zutreffende – Überschrift: "Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan." Das Titelbild zeigte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) im Gespräch.
Diesen Kontext, so beanstandeten die Karlsruher Richter, habe das KG bei seiner Auslegung vorschnell und ohne Begründung abgetan. Das Argument des KG: Der Leser müsse den Link noch anklicken, um den vollständigen nachrichtlichen Kontext von Reichelts Tweet zu verstehen – und das sei auf X nicht üblich. Eine "nicht nachvollziehbar begründete Annahme des Kammergerichts", urteilte der Erste Senat scharf. Inwiefern die Annahme über das Klickverfahren der X-User zutrifft, prüften die Karlsruher Richter aber nicht selbst. Das sei nicht notwendig, denn ein Auslegungsfehler des KG liege schon darin, dass es die in der Artikelvorschau sichtbare Schlagzeile (den Metatitel) nicht berücksichtigt hatte.
Welche Bedeutung hat das "Irrenhaus"?
Schon das Berliner Landgericht (LG) hatte in der ersten Instanz des Verfügungsverfahrens genau darauf abgestellt. Im Zusammenhang mit der Schlagzeile könne das verständige Durchschnittspublikum Reichelts Tweet nur als überspitzte Kritik verstehen, nicht als von der NiUS-Schlagzeile abweichende Tatsachenbehauptung. Eine insofern nachvollziehbare, aber ihrerseits unvollständige Begründung, hatte LTO die Entscheidung kommentiert. Denn das LG wiederum hatte zur Auslegung des Tweets neben dem verlinkten NiUS-Artikel nur den ersten Satz berücksichtigt, den es nicht einmal vollständig zitiert hatte.
Das KG hingegen hatte bei seiner Entscheidung auf den zweiten Teil des Posts abgestellt, in dem Reichelt seine Entrüstung über die Außen- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung zum Ausdruck brachte. Deutschland für diese Politik als "historisch einzigartiges Irrenhaus" zu bezeichnen, sei eine derart heftige Bewertung, die nur dann ansatzweise gerechtfertigt sei, wenn die Regierung tatsächlich Geld an die Taliban überweisen würde. Im Kontext dieser Kritik könne der Durchschnittsleser den ersten, vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) angegriffenen Teil nur so verstehen, als ginge Reichelt davon aus, die Regierung würde das Geld direkt der Terrororganisation zur Verfügung stellen.
Das BVerfG ging hierauf ein und beanstandete, dass das KG diese Ausführungen nicht in eine gemeinsame Auslegung mit der NiUS-Schlagzeile einbezogen habe. Angesichts der Überschrift des verlinkten Artikels sei es eben nicht zwingend, dass Reichelt die Politik der Bundesregierung nur dann als "irre" ansehen könne, wenn tatsächlich Gelder direkt an die Taliban flössen. Außerdem hielten die Richter in Karlsruhe es für naheliegend, dass Reichelt mit seinem Tweet habe kritisieren wollen, dass Entwicklungsgelder mittelbar auch der Taliban zugutekommen könnten.
Rechtsweg erschöpft – BVerfG weicht von BGH ab
Bemerkenswert ist der BVerfG-Beschluss auch deshalb, weil die Richter ungewöhnlich schnell über Reichelts Verfassungsbeschwerde entschieden und sie nicht für unzulässig hielten. Reichelt hätte nämlich noch die Möglichkeit gehabt, gemäß §§ 936, 924 Zivilprozessordnung Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung einzulegen. Auch hätte das BMZ zur Erhebung der Klage in der Hauptsache verpflichtet werden können. Gemäß § 90 Abs. 2 S. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ist eine Verfassungsbeschwerde nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer zuvor erfolglos den kompletten Rechtsweg beschritten hat.
Die Richter der 1. Kammer wendeten aber Satz 2 an, wonach das BVerfG sofort über eine Sache entscheiden kann, "wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde". Sowohl das Beschreiten des Rechtswegs in der Hauptsache als auch das Widerspruchsverfahren und eine mögliche anschließende Berufung waren für Reichelt laut BVerfG hier aussichtslos. Im Eilverfahren hätte zunächst wieder das LG Berlin (unter Berücksichtigung der Auffassung des KG) und danach erneut das KG entschieden. Reichelt habe sich nicht darauf einlassen müssen, hier erneut zu verlieren.
Auch das Hauptsacheverfahren hielt das BVerfG für unzumutbar. Hier wäre letztinstanzlich der Bundesgerichtshof zur Entscheidung über die Revision oder eine Nichtzulassungsbeschwerde zuständig gewesen. Warum es aussichtslos erscheint, dass dieser Reichelt schließlich Recht geben könnte, bleibt in dem Karlsruher Beschluss unklar.
BMZ gesteht Niederlage ein
Formal ist das Verfahren zwar noch nicht vorbei, denn das BVerfG verwies den Fall zurück an das KG in Berlin. Jedoch wird das KG die Rechtsauffassung der 1. Kammer des Ersten Senats berücksichtigen müssen – und die haben die Karlsruher Richter deutlich zum Ausdruck gebracht.
Dabei haben sie nicht nur die Auslegung durch das KG als unvollständig beanstandet, sondern haben klargestellt, welcher Kontext zu berücksichtigen gewesen wäre. Auch machten die Richter in dem Beschluss mehrfach deutlich, dass es zwingend ist, alle in dem Tweet gemachten Aussagen als Meinungsäußerungen auszulegen. Dass das KG die Taliban-Aussage nun mit abweichender Begründung wieder als Tatsachenbehauptung einstufen wird, ist äußerst unwahrscheinlich. Anhaltspunkte dafür, dass die Berliner Richter die Aussage als Meinungsäußerung einstufen, aber dennoch untersagen werden, sind ebenfalls nicht vorhanden. Denn der Post enthält keine Formalbeleidigung oder verhetzende Inhalte.
Wenig überraschend ist daher, dass das BMZ "den Rechtsstreit in dieser Sache nicht weiter verfolgen" will, wie ein Sprecher am Dienstag mitteilte. Gleichzeitig betonte er, dass das Ministerium "auch schärfste und polemische Kritik" aushalte. "Es ging uns bei diesem Verfahren ausdrücklich nicht darum, uns vor Kritik zu schützen, sondern allein darum, dass die Fakten stimmen." Bei Reichelts Tweet war das nach Ansicht des Ministeriums nicht der Fall. Man nehme aber "mit Respekt zur Kenntnis", dass das BVerfG den Tweet anders ausgelegt hat.
Reichelts Anwalt Joachim Nikolaus Steinhöfel dagegen meint, das BVerfG habe dem BMZ "eine Lektion" erteilt – darüber, "was wirkliche Demokratieförderung ist". "Die Bundesregierung ist mit ihrem offensichtlich verfassungswidrigen Versuch gescheitert, einem Journalisten mit gerichtlicher Hilfe eine Meinungsäußerung zu verbieten", kommentierte Steinhöfel am Dienstagmorgen auf X.
Taliban-Tweet doch zulässig: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54344 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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