Am Dienstag entscheidet das BVerfG, ob der Gesetzgeber zum Schutz von Behinderten ein Triage-Gesetz verabschieden muss. Der Prozessvertreter Oliver Tolmein im Interview über die Hintergründe des Verfahrens.
LTO: Herr Prof. Dr. Tolmein, wer sind Ihre Mandantinnen und Mandanten und was befürchten diese?
Oliver Tolmein: Ich vertrete neun Menschen mit schweren Behinderungen. Da ist etwa ein 29-jähriger Mann, der kurz nach seiner Geburt einen Schlaganfall erlitten hat und seitdem kognitive und körperliche Beeinträchtigungen hat, auch eine 34-jährige Sozialarbeiterin, bei der eine spinale Muskelathropie diagnostiziert ist und einen 77-jähriger ehemaligen Direktor am Max-Planck-Institut, der wegen einer schweren koronaren Herzerkrankung behandelt wird. Alle befürchten, dass sie im Falle einer Triage bei Auswahlentscheidungen gegenüber Nichtbehinderten benachteiligt werden.
Sie wollen, dass der Gesetzgeber ein Triage-Gesetz auf den Weg bringt. Was würde das bringen?
Wenn wir jetzt die Verfassungsbeschwerde gewinnen und der Gesetzgeber dann ein schlechtes Gesetz macht, wird es für uns auch nicht leicht, dann müssten wir wieder nach Karlsruhe rennen. Wirklich gewinnen können wir nur, wenn keine Triage-Entscheidungen getroffen werden müssen. Aber wenn triagiert werden muss, braucht es dafür einen gesetzlichen Rahmen und es muss gewährleistet sein, dass es keine Benachteiligung von Menschen wegen ihrer Behinderung gibt. Das kann aber zuverlässig nur der Gesetzgeber sicherstellen.
Rechtlich haben wir vor allem zwei Ansatzpunkte: In Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, heißt es "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Das ist in erster Linie ein Abwehrrecht, die Regelung begründet aber auch Schutzpflichten. Wir leiten daraus ab, dass der Gesetzgeber für den Fall einer Priorisierung gegebenenfalls zum Beispiel angemessene Vorkehrungen treffen müsste, behinderungsbedingte Beeinträchtigung auszugleichen.
Ein zweiter wichtige Aspekt ist die Wesentlichkeitstheorie. Wir haben in der gesetzlichen Krankenversicherung einen Anspruch, bei entsprechender medizinischer Indikation auch behandelt zu werden. Es gibt keine Regelung, dass der Behandlungsanspruch entfällt, wenn die Ressourcen knapp sind. Wenn sich das ändert und sogar lebensrettende indizierte Behandlungen wegen Ressourcenknappheit verweigert werden sollen, kann das nicht allein durch den Arzt am Krankenbett geschehen, der auf Grundlage von bestenfalls medizinisch begründeten Kriterien sagt: "Wir behandeln nicht Sie, sondern eine andere." Den Rahmen, innerhalb dessen diese Auswahlentscheidungen auf Leben und Tod getroffen werden, kann nur der Gesetzgeber setzen. Und er muss auch gerichtlich überprüft werden können.
"Es wird eine harte gesellschaftliche Diskussion geben"
Jetzt gibt es ja schon die Leitlinien der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die die Triage regeln. Was ist daran das Problem?
Das Problem ist gravierend. Die DIVI ist eine private medizinische Vereinigung, die für solche grundlegenden gesellschaftlichen Entscheidungen nicht legitimiert ist. Ihre Richtlinien geben den Stand einer Fachdiskussion wieder, aber wir bewegen uns hier nicht im fachmedizinischen Bereich, sondern in einem gesellschaftlichen Ressourcenallokationskonflikt. Den können nicht Ärzte entscheiden.
Außerdem legen manche Kliniken auch eigene Vorgehensweisen und Kriterien fest. Das heißt, wir haben hier einen Flickenteppich. Die Behandlungs- und damit Überlebenschancen eines Patienten dürfen aber nicht davon abhängen, in welcher Klinik er oder sie zufälligerweise landet. Es ist zwingend, dass der Gesetzgeber, wenn er es nicht schafft, die Situation einer Triage zu verhindern, regeln muss, in welchem Rahmen sie stattzufinden hat. Das ist eine harte Entscheidung, das ist völlig klar. Und es wird eine kontroverse gesellschaftliche Diskussion geben, aber der muss er sich dann stellen und kann nicht sagen: "Komm, lass mal die Ärzte machen." Und Menschen mit Behinderungen, alte Menschen und Menschen mit Komorbiditäten tragen dann die Folgen alleine.
Sind die DIVI-Leitlinien auch inhaltlich problematisch?
Allerdings. Denn es wird ein neues Kriterium der "Erfolgsaussicht" eingeführt. Patienten mit größeren Erfolgsaussichten werden den anderen Patientinnen und Patienten vorgezogen. Die Erfolgsaussicht ist schon nicht zuverlässig feststellbar. Denn ob die auf Statistiken berechnete Erfolgsaussicht sich beim individuellen Patienten realisiert oder nicht, wissen wir nicht. Viele Menschen mit schweren Behinderungen haben schon mal erlebt, dass ihnen Prognosen gestellt wurden, die sich als falsch erwiesen haben; etwa dass prognostiziert wurde, dass sie nicht mehr lange zu leben haben und trotzdem sind sie weiterhin ganz gesund und munter. Im Falle der Triage würde ihnen die Chance genommen, zu zeigen, dass die Prognose falsch ist.
"Ja es kann sein, dass dann mehr Menschen sterben"
Was wäre denn ein geeignetes Kriterium für den Fall einer Triage?
Ein geeignetes Kriterium gibt es nicht, weil tatsächlich jede Entscheidung einer Behandlungsverweigerung mangels Ressourcen eine schlechte, nämlich eine für den Patienten tödliche ist. Wir sagen aber, die Entscheidung muss wenigstens diskriminierungsfrei sein. Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten.
Man kann etwa angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung treffen, damit sie gleichberechtigt in die Auswahl von Ressourcen kommen. Zum Beispiel, wenn man weiß, dass jemand mit einer Spinalen Muskelatrophie eine deutlich längere Behandlung benötigt, das aber mit einem Triage-Konzept im Widerspruch steht, die das Ziel verfolgt möglichst viele Menschen zu behandeln. Wir gehen davon aus, dass Menschen mit Behinderungen, wenn sie eine längere Behandlung benötigen, auch das Recht und die Chancen bekommen müssen, länger behandelt zu werden.
Aber bei der Triage sollen doch möglichst viele Leben gerettet werden. Wenn dann Patienten länger brauchen auf der Intensivstation, rettet man ja weniger.
Ja es kann sein, dass dann weniger Menschen behandelt werden können und vielleicht mehr Menschen sterben. Das Kriterium in "in erster Linie möglichst viele Menschen retten" ist aus unserer Sicht in der Gesellschaft aber nicht richtig. Der Preis dafür kann zu hoch sein. Denken Sie an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz, da ging es auch um die Frage, ob die Bundeswehr ermächtigt werden darf, ein mit vergleichsweise wenigen unschuldigen Menschen besetztes Passagierflugzeug abzuschießen, das als Tatwaffe zur Tötung von sehr vielen Menschen eingesetzt werden soll. Damals, 2006, hat das BVerfG richtig entschieden: Damit würden die Menschen im Flugzeug auch vom Staat zu Objekten gemacht werden, weder die Tatsache, dass sich im Flugzeug weniger Menschen befinden, noch dass deren Leben ohnehin vermutlich nicht gerettet werden kann, kann eine solche Entscheidung legitimieren.
Wenn man jetzt in der Triage-Situation den utilitaristisch geprägten Gedanken verfolgt und sagt, wir wollen in erster Linie möglichst viele Leute retten und verzichten darauf, z.B. Personen mit spinaler Muskelatrophie zu retten, obwohl das grundsätzlich möglich wäre - dann leben wir in einer anderen Gesellschaft.
Welche anderen Möglichkeiten gäbe es denn noch?
Es gäbe die Möglichkeit, dem Grundsatz: wer zuerst kommt, wird behandelt, zu folgen. Oder es gibt die Möglichkeit, ein Losverfahren einzuführen. Etwa jeder dritte Patient, der kommt, wird abgewiesen. Da sträuben sich die Mediziner, aber die Frage ist, ob es so anders ist. Es ist jedenfalls diskriminierungsfrei. Man könnte auch sagen: Menschen, die sich bewusst und ohne Not gegen eine Impfung entschieden haben, werden auf der Priorisierungsliste nach hinten gesetzt. Es gibt auch andere, kompliziertere Regelungsmodelle.
Aber unsere Verfassungsbeschwerde ist auch keine, die sagt: Wir wollen diese Lösung für das Problem der Triage. Wir sagen vor allem: Der Gesetzgeber muss es entscheiden. Wenn wir die Verfassungsbeschwerde gewinnen, wird danach eine Diskussion stattfinden. In der Debatte werden sich auch Behindertenorganisationen deutlich artikulieren und mitreden: Wie kann die Triage so regeln, dass eine Gesellschaft daran nicht zerbricht und gleichzeitig grundlegende Werte, eben die Nichtquantifizierbarkeit des menschlichen Lebens, trotzdem erhalten bleiben?
Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein ist Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte. Er bearbeitet unter anderem Mandate in den Bereichen Inklusion und krankenversicherungsrechtliche Fragen. Der Fachanwalt für Medizinrecht wurde mehrfach als Sachverständiger zu Gesetzgebungsvorhaben in Parlamenten angehört. Seit 2021 ist er Honorarprofessor an der Georg-August-Universität und lehrt dort an der Juristischen Fakultät Medizinrecht.
Diskriminierung von Behinderten?: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47050 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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