Wie lässt sich das stetige Anwachsen des Bundestags bremsen? Das sollte eine Wahlrechtsreform in der letzten Legislaturperiode lösen – und sie hat bei der Bundestagswahl 2021 Wirkung entfaltet, zeigt Bernd Grzeszick.
Der nächste deutsche Bundestag wird 735 Sitze haben. Das sind 26 Sitze mehr als in der noch laufenden Legislaturperiode. Die war auch geprägt von einer rechtspolitischen Diskussion zur Frage, wie man ein immer stärkeres Anwachsen des Parlaments bremsen könnte. Nach langen Überlegungen entschieden die Fraktionen von CDU/CSU und SPD sich im Herbst 2020 dafür, am tradierten Wahlrecht der personalisierten Verhältniswahl grundsätzlich festzuhalten, aber an drei Stellen Änderungen vorzunehmen.
Zum einen wurde die Sitzzuteilung so geändert, dass ein Aufwuchs der Abgeordnetenzahl durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern vermieden wird, wobei eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate gewährleistet bleiben soll. Zum anderen erfolgt ein Ausgleich von Überhangmandaten erst nach dem dritten Überhangmandat. Schließlich soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden, dies allerdings erst ab 2024.
Größenverhältnisse wie beim chinesischen Volkskongress?
Das neue Wahlrecht sah sich sofort massiver Kritik ausgesetzt. Zentral war vor allem der Vorwurf, dass mit dem neuen Recht das Wachstum des Bundestags nicht hinreichend gedämpft werde: Es drohe ein Parlament, das wegen seiner Größe zu teuer sei und nicht mehr hinreichend funktioniere; sogar Parallelen zum chinesischen Nationalen Volkskongresses und seinen über 1.000 Abgeordneten wurden bemüht. Darüber hinaus wurde kritisiert, dass das bewusste Zulassen ausgleichsloser Überhangmandate verfassungsrechtlich problematisch sei. Schließlich seien die Regelungen insgesamt so unbestimmt geraten, dass die Sitzzuteilung nicht präzise genug nachvollzogen werden könne.
Die verfassungsrechtlichen Fragen wurden dann Gegenstand eines beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) von Abgeordneten der FDP, des Bündnis 90/Die Grünen und der Linken anhängig gemachten Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle. Den im Rahmen dieses Verfahrens gestellten Antrag, das neue Wahlrecht auf die Bundestagswahl im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nicht anzuwenden, lehnte das Gericht allerdings mit Beschluss im Juli 2021 ab. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus.
Das neue Wahlrecht in der Praxis
Am Sonntag war es dann so weit: Das reformierte Wahlrecht kam erstmals zur Anwendung. Wie dies erfolgte, und wie die Resultate im Einzelnen lauten, kann den vom Bundewahlleiter am Montag mitgeteilten vorläufigen Ergebnissen entnommen werden. Jeder Interessierte kann und mag sich die nötigen fünf bis zehn Minuten nehmen, um auf den Seiten mit den maßgeblichen Berechnungen die relevanten Einzelheiten nachzulesen – und sich dann wohlmöglich verwundert die Augen zu reiben: Das viel gescholtene und hart kritisierte Wahlrecht hat den Praxistest offenbar bestanden!
Evident ist dies mit Blick auf die Zahl der Abgeordneten. Statt eines „Parlaments der 1000“ ist eine Hausgröße von 735 Mitgliedern eingetreten. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil vorab häufiger behauptet wurde, dass insbesondere der Stimmenschwund der Volksparteien zu einer erheblichen Aufblähung des Bundestages führen werde. Nun, SPD und CDU/CSU liegen jeweils bei ungefähr 25 Prozent, aber das prophezeite übermäßige Wachstum ist ausgeblieben.
Warum drei Überhangmandate der CSU nicht ausgeglichen werden
Wer den Gründen nachgeht, gelangt relativ rasch zu den nicht ausgeglichenen drei Überhangmandaten. Diese sind sämtlich bei der CSU angefallen und haben dazu geführt, das gegenüber einem Vollausgleich, wie er im früheren Wahlrecht noch vorgesehen war, wohl 55 Sitze weniger zugeteilt werden mussten. Der Effekt ist erheblich und trägt wesentlich dazu bei, dass der Bundestag nur etwas größer geworden ist als bei der letzten Wahl. Da der Bundestag mit 709 Mitgliedern seine Funktionen offenbar erfüllen konnte, ist auch nicht erkennbar, weshalb dies mit nun 735 Mitgliedern nicht mehr der Fall sein sollte.
Das verbliebene Wachstum war dabei aufgrund der Stimmenverteilung über die Länder so verteilt, dass das zweite Reformelement, die hälftige länderübergreifende Verrechnung jeweils innerhalb der Parteien, letztlich nicht relevant wurde. Am deutlichsten zeigt sich dies am Ergebnis der CDU in Baden-Württemberg: Hier entstanden zunächst 12 potentielle Überhangmandate, die aber durch die anfallenden Ausgleichsmandate gedeckt wurden, weshalb es zu keiner – möglichen – Verrechnung mit den CDU-Ergebnissen in anderen Bundesländern kommen konnte. Alle Landeslisten der CDU haben mindestens die ihnen nach den Sitzkontingenten im ersten Verteilungsschritt zustehenden Sitze erhalten. Ein grundsätzlicher Nachteil ist dies nicht, denn das Wachstum des Bundestages konnte durch die ausgleichslosen Überhangmandate hinreichend begrenzt werden.
Der beobachtete Effekt kann auch bei der SPD festgestellt werden, bei der in insgesamt sechs Ländern potentielle Überhangmandate entstanden, die dann wohl zum Teil durch die anfallenden Ausgleichsmandate und zum Teil durch länderübergreifende Verrechnung aufgefangen wurden.*
Modellrechnung: Wie hätte das neue Wahlrecht auf den "alten" Bundestag gewirkt?
Dass das Element der länderübergreifenden partiellen Verrechnung dennoch nicht bedeutungslos ist, sondern in anderen Konstellationen durchaus Wirkung entfalten kann, zeigt schließlich ein Blick auf die vom Bundeswahlleiter bereitgestellte probeweise Berechnung mit den Stimmenzahlen der Bundestagswahl 2017. Auf der Grundlage dieser Zahlen hätte die länderübergreifende Kompensation gegriffen und ihre das Größenwachstum bremsende Wirkung entfaltet: Der Bundestag hätte statt 709 nur 686 Mitglieder gehabt.
Wer die nötige kurze Lesezeit investiert und die Zahlen zur Berechnung der vorläufigen Ergebnisse zur Kenntnis genommen hat, wird zudem den letzten größeren Aspekt der Kritik zu würdigen wissen: Den Vorwurf der Unbestimmtheit der Sitzzuteilung. Die Berechnungen des Bundeswahlleiters erfolgen so transparent und kleinschrittig, dass der Ablauf der zu den Normen gehörenden Rechenoperationen keine Fragen offen lässt. Die dargelegten Berechnungen sind unmittelbarer Beleg dafür, dass das Wahlrecht so bestimmt ist, dass es von der dafür zuständigen Verwaltung unmittelbar vollzogen werden kann, dass die Verwaltung dabei keine bedenklichen Spielräume hat, und dass der halbwegs interessierte Bürger dies mit vertretbarem Aufwand nachvollziehen kann.
Dass es Wahlrechtsmodelle gibt, die einfacher zu berechnen sind, soll dabei nicht in Abrede gestellt werden. Das ist aber kein juristisch valider Einwand, da es verfassungsrechtlich allein darauf ankommt, dass das Wahlrecht hinreichend bestimmt ist. Die verbleibende Komplexität ist der konkreten Ausgestaltung geschuldet, die in der Verbindung von Mehrheitswahl von Personen in Wahlkreisen und Verhältniswahl nach Landeslisten liegt, und die den verfassungsrechtlich vom BVerfG stets betonten Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers reflektiert.
Insgesamt: Praxistest bestanden!
Damit zeigt sich, dass die zum Teil fundamental formulierte Kritik am neuen Wahlrecht insgesamt nicht durchringt. Zwar bleibt es dabei, dass der Bundestag erneut deutlich über seine Ausgangsgröße von 598 Abgeordneten hinausgeht, und im Vergleich zur letzten Wahl wohl 26 weitere Abgeordnete hinzugekommen sind. Allerdings ist dies dem Grundmechanismus der Ausgleichsmandate geschuldet, wogegen das Reformelement der ausgleichslosen Überhangmandate seine "Bremskraft" deutlich gezeigt hat.
Die weiteren Entwicklungen des Bundestagswahlrecht werden von zwei Institutionen mitgeprägt werden. Zum einen ist die Hauptsacheentscheidung des BVerfG im anhängigen Normenkontrollverfahren gegebenenfalls zu berücksichtigen. Zum anderen hat der Bundestag noch im Sommer 2021 eine Kommission zur Reform des Wahlrechts eingesetzt. Nach dem Bekunden der beteiligten Fraktionen soll auch in der neuen Legislaturperiode die – wegen des Grundsatzes der Diskontinuität allerdings neu einzusetzende – Kommission tätig sein.
Zukünftige Reformen: Direktmandate stärken
Dabei könnte durchaus überlegt werden, ob das durch die Ausgleichsmandate generierte Wachstum des Bundestages noch weiter begrenzt werden muss. Grund dafür ist aber weniger die Anzahl der Abgeordneten, sondern deren Herkunft von den Listen: Mit jedem Ausgleichsmandat sinkt der Anteil der Direktmandatsträger im Bundestag. Dies ist relevant, da die direkt gewählten Abgeordneten den Bürgern in den Wahlkreisen spezifisch verbunden sind und die vermittelnde Kommunikation zwischen den Bürgern und dem Parlament in besonderer Weise leisten können. Anders gewendet: Den Anteil der Direktmandatsträger zu stärken heißt Responsivität der Politik und deren Akzeptanz auf Seiten der Bürger zu fördern.
Eben dies sind auch die Gründe, weshalb nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ausgleichslose Überhangmandate in Grenzen zulässig sind. Als Konsequenz dieser Erwägungen hat der sächsische Verfassungsgerichtshof zum dortigen Landtagswahlrecht, das dem Bundestagswahlrecht sehr ähnlich ist, am 18. Juni 2021 entschieden, dass eine wahlrechtliche Regelung, nach der die Zahl der Ausgleichsmandate die der Überhangmandate nicht übersteigen darf, verfassungsgemäß ist: Die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten in begrenzter Zahl ist durch das von der Verfassung legitimierte Ziel der Personalwahl gedeckt und verfassungsgemäß.
Sollte erneut über eine Reform des Bundestagswahlrecht nachgedacht werden, spricht daher viel dafür, Anteil und Stellung der Direktmandatsträger zu erhalten und nach Möglichkeit zu stärken.
*Aktualisierung aufgrund von Nachberechnungen am 01.10.2021, 15.38 Uhr.
Professor Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. (Cambridge) hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Internationales Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg inne. Er war einer der Sachverständigen, die 2020 zu dem Gesetzentwurf zur Wahlrechtsreform im Rechtsausschuss des Bundestages Stellung genommen haben, und ist Mitglied der Kommission zur Reform des Bundestagswahlrechts.
Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46166 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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