Der Bundestag hat das Mandat für den Evakuierungseinsatz in Afghanistan erteilt, ohne gäbe es keine weiteren Rettungsflüge. Denn die parlamentarische Kontrolle ist ein zentraler Gegenstand der Wehrverfassung, erklärt Simon Gauseweg.
Nur zwischendurch ging es um das konkrete Mandat, größtenteils dominierte am Mittwoch das Wahlkampfgetöse die Debatte um den Antrag mit der Drucksachenummer 19/32022. Die Bundesregierung hatte damit bereits am Dienstag der vergangenen Woche um Zustimmung des Bundestages zur größten Evakuierungsmission der Geschichte der Bundeswehr gebeten. Doch anstelle über Ziel, Umfang und insbesondere Dauer der Rettungsmission zu sprechen, verbrachten die Abgeordneten den Großteil der Zeit damit, sich gegenseitig die Verantwortung für die desaströse Lage in Afghanistan zuzuweisen.
Kurz blitzte das Dilemma der Linksfraktion auf, Solidarität mit Menschen in Lebensgefahr auf der einen und Ablehnung militärischer Interventionen auf der anderen Seite vereinbaren zu wollen. Die Hamburger SPD-Abgeordnete Aydan Özoğuz bezeichnete daraufhin die Vorstellung, eine Evakuierung ohne den Schutz der Bundeswehr durchführen zu können, als absurd. Zwischendurch dankten Rednerinnen und Redner verschiedener Fraktionen den in Afghanistan eingesetzten Soldaten für ihren Einsatz zu dem, so Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in der Eröffnung, "uns die Humanität verpflichtet".
Dann wurde um 14:43 die namentliche Abstimmung eröffnet. Um 15:41 Uhr gab die Vizepräsidentin des Bundestages Petra Pau bekannt: Bei nur 9 Gegenstimmen und 90 Enthaltungen hat der Bundestag das Mandat für den Rettungseinsatz erteilt.
Ein Bundestagsmandat ist mehr als ein einzelner Einsatzbefehl
Für die Bundeswehr sind solche Mandate identitätsstiftend. Sie sieht sich selbst als Parlamentsarmee. Das heißt, sie ist nicht ausschließlich Werkzeug einer Regierung, sondern auch der Volksvertretung und damit letztlich dem gesamten Volk verpflichtet. Ihr Leitbild, die Innere Führung, will Soldaten lehren, dass demokratisch legitimierter politischer Wille stets Vorrang vor militärischer Führung hat.
Dieses Selbstverständnis vom Primat der Politik ist Ausdruck der deutschen Wehrverfassung; innerhalb dieser hat der Parlamentsvorbehalt beim bewaffneten Streitkräfteeinsatz eine wichtige Stellung eingenommen.
Eine Armee unter parlamentarischer Kontrolle
Die sogenannte Wehrverfassung bindet die Bundeswehr eng an den Gesetzgeber.
Nicht nur die zahlenmäßige Stärke, sondern auch die Grundzüge der Organisation der Bundeswehr müssen sich gemäß Art. 87a Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) aus dem Haushaltsplan ergeben. Der sogenannte Einzelplan 14 weist daher nicht nur auf die Planstelle genau die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten aus, sondern legt fest, über wie viele Divisionen das Heer und wie viele Flottillen die Marine verfügt. Das in letzter Zeit häufig in den Schlagzeilen zu lesende Kommando Spezialkräfte ist ebenso zu finden wie die Big Band der Bundeswehr.
Der Verteidigungsausschuss gemäß Art. 45a Abs. 1 GG ist einer der wenigen vom Grundgesetz vorgegebenen Ausschüsse des Bundestages. Er reiht sich ein in die kurze Liste aus dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 45 GG), dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten (Art. 45a GG), dem Petitionsausschuss (Art. 45c GG) und dem Parlamentarischen Kontrollgremium (Art. 45d GG).
Im Unterschied zu seinen Pendants ist der Verteidigungsausschuss von Hause aus mit den besonderen Rechten eines Untersuchungsausschusses ausgestattet (Art. 45a Abs. 2 GG). Bereits ein Viertel seiner Mitglieder kann die Untersuchung einer Angelegenheit erzwingen. Gut möglich, dass das eine der ersten Amtshandlungen der neuen Ausschussmitglieder nach der kommenden Bundestagswahl sein wird. Ein Lösch-Moratorium zum Schutz von Akten und Aufzeichnungnen, das die Grünen im Ausschuss beantragt hatten, ist allerdings heute von der Regierungsmehrheit abgelehnt worden.
Der Bundestag bedient sich bei seiner parlamentarischen Kontrolle auch eines Hilfsorgans: Art. 45b GG legt fest, dass der Bundestag eine Wehrbeauftragte beruft. Verfassungsauftrag der derzeitigen Amtsinhaberin Eva Högl ist der Schutz der Grundrechte; zu ihren Kernaufgaben gehört auch die Wacht über die Innere Führung der Bundeswehr. Sie berichtet direkt dem Verteidigungsausschuss bzw. dem gesamten Bundestag, gegenüber dem Bundesministerium der Verteidigung und der Bundeswehr hat sie umfangreiche Auskunfts- und Betretungsrechte.
Besonders bedeutend ist das Recht jedes einzelnen Soldaten, sich unmittelbar und vertraulich an die Wehrbeauftragte zu wenden, um ihr etwa Missstände zur Kenntnis zu geben. Viele Skandale der Bundeswehr kamen dadurch ans Licht und konnten aufgrund der Wehrbeauftragten, also letztlich der parlamentarischen Kontrolle, korrigiert werden.
Von humanitärer Hilfe zur "Armee im Einsatz"
Bei diesem Maß parlamentarischer Kontrolle verwundert es kaum, dass der Gesetzgeber auch bei bewaffneten Auslandseinsätzen ein Mitspracherecht hat. Gerade der Einsatz militärischer Gewalt muss, dem Primat der Politik folgend, politisch und insbesondere demokratisch legitimiert sein.
Doch scheinbar schweigt das Grundgesetz zu dieser Frage: Ein eigener Artikel zum Parlamentsvorbehalt findet sich nicht. Das dürfte vor allem daran liegen, dass man bei Aufstellung der Bundeswehr im Jahr 1955 an derartige Einsätze kaum gedacht hat. Primäre Aufgabe des deutschen Militärs ist gemäß Art. 87a Abs. 1 GG die Verteidigung.
Im Ausland war die Bundeswehr zunächst nur zu Hilfsmissionen. In den Jahren 1959 bis 1991 kannte man Einsatzsoldaten der Bundeswehr nur als humanitäre Helfer, etwa nach Erdbeben oder Überflutungen. Erst nach der Wiedervereinigung gewannen die Einsätze der Bundeswehr mehr militärische Kontur. Am 12. Juli 1994 fällte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hierzu die sogenannte Out-of-area-Entscheidung..
Ihr vorausgegangen war ein Organstreitverfahren über unter anderem die Beteiligung der Bundeswehr an einem NATO-Einsatz im Mittelmeer zur Überwachung eines Embargos gegen die damalige Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro). Die antragstellenden Fraktionen der FDP und SPD machten zunächst geltend, dem Einsatz fehle bereits die Rechtsgrundlage. Denn der Einsatz sei keine Verteidigung. Die auch von der Bundeskanzlerin in ihrer Rede vom Mittwoch zitierte Auslegung des Begriffs dahingehend, dass der Einsatz auch den am Hindukusch umfasse, kam erst 2002 anlässlich des jetzt beendeten Afghanistaneinsatzes auf.
Das BVerfG entschied, dass auch Art. 24 Abs. 2 GG eine taugliche Rechtsgrundlage für einen Einsatz der Bundeswehr sein kann. Die Bestimmung erlaubt die Einordnung in Systeme kollektiver Sicherheit. Auch das Verteidigungsbündnis NATO könne als ein solches System angesehen werden "wenn und soweit es strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet" sei. Das Gericht erlaubte daher die Mission und legte damit den juristischen Grundstein für die heutige Bundeswehr als "Armee im Einsatz".
Die parlamentarische Entscheidung über Krieg und Frieden ist ungeschriebene Verfassungstradition
Im System der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehender Gewalt ist der Einsatz bewaffneter Kräfte eindeutig Letzterer zuzuschreiben. Das Militär ist der Inbegriff der Exekutive. Dennoch sind gerade hier die Möglichkeiten der dritten Gewalt beschränkt. Sie kann, so das BVerfG, gerade nicht allein über Krieg oder Frieden entscheiden. Und noch weiter: Schon wenn die „Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten“ ist, kann die Regierung nicht im Alleingang handeln, sondern nur mit Zustimmung des Parlaments.
Das sieht auch das Grundgesetz so vor. Schon der Art. 59a Abs. 1 GG a.F. wies die Feststellung des Verteidigungsfalles dem Bundestag zu. Heute trifft sie gemäß Art. 115a Abs. 1 GG der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Beide Regelungen sehen Regeln für Gefahr im Verzug vor und gehen auf Art. 11 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung zurück, der für eine Kriegserklärung die Zustimmung von Bundesrat und Reichstag verlangte.
Es ist daher, so das BVerfG in der Out-of-Area-Entscheidung, deutsche Verfassungstradition seit 1918, dass der militärische Einsatz von Streitkräften der konstitutiven Zustimmung des Parlaments bedarf. Das gilt auch, ohne dass es ausdrücklich im Grundgesetz niedergeschrieben ist: Ob gekämpft wird, entscheidet das Parlament.
Das neue Afghanistan-Mandat
Es dürfte an dieser politischen Verantwortlichkeit liegen, dass die heutige Debatte über das Afghanistan-Mandat im Wesentlichen die vergangenen Mandate und nicht das zu beschließende behandelte. Dass ehemalige Ortskräfte und Menschenrechtlerinnen und -rechtler aus Afghanistan vor den Taliban gerettet werden müssen, ist ein Resultat der Fehler der vergangenen 20 Jahre - und erscheint den meisten Abgeordneten wohl so offensichtlich, dass sie darüber nicht viel debattieren.
Die Bundeswehr nun auf der Stelle zurückzurufen, wie es das Recht des Bundestages gewesen wäre, wäre das falsche Signal gewesen. Daher gab es ungewöhnlich wenige Gegenstimmen.
Der Bundestag hat jedoch die Chance verpasst, inhaltlich darüber zu debattieren, welcher Umfang und welche Mittel für derartige Evakuierungen angemessen sind. Die Regierung hat als Einsatzgebiet das gesamte Staatsgebiet von Afghanistan beantragt. Das erteilte Mandat umfasst neben Sicherung und Schutz auch "Wirkung", also den Einsatz militärischer Gewalt. Das ist maximale Flexibilität und erscheint angesichts der unübersichtlichen Lage vor allem praktisch. Thematisiert hat es der Bundestag nicht.
Während er seiner Bedeutung in Bezug auf den aktuellen Rettungseinsatz eher formal als inhaltlich nachkam, hat der Bundestag heute aber auch begonnen, seine bisherige Mandatspraxis und die parlamentarische Kontrolle der Auslandseinsätze zu reflektieren. Vielleicht ist das ein Anfang.
Der Autor Simon Gauseweg ist akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht. Er ist Offizier der Reserve.
Evakuierung aus Afghanistan: . In: Legal Tribune Online, 25.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45830 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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